Motto dieser Zeit diente Kants Ausspruch »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« Dem möchte ich ausnahmslos folgen.
Die Jahrhunderte, die der wissenschaftlichen Revolution folgten, sahen das Leben und seine Bausteine allerdings zunehmend als maschinenartig, mechanistisch und vorhersagbar an. Descartes stellte sich das Universum als eine gigantische Maschine vor, die durch mathematische Modelle erklärbar sei. Grundsätzlich ein sehr bestechender Gedanke, der auch die moderne Medizin in weiten Teilen in ihrer Ansicht über das Funktionieren unseres Körpers beherrscht.
Wir werden sehen, dass zwar die Grundsätze der Thermodynamik absolut und unumschränkt ihre Gültigkeit haben, ihre vereinfachte Anwendung auf unseren Körper – bei der beliebten Rechnung von aufgenommenen und verbrauchten Kalorien – hingegen dennoch andere Ergebnisse liefert. Ein klassisches Beispiel für die fehlerhafte Anwendung reduktionistischer Tatsachen auf die Komplexität des Lebens.
Und obwohl längst nicht mehr zeitgemäß und den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechend, sind immer noch viele der Auffassung, dass ein wesentliches Merkmal der Natur ein »Kampf um das Überleben« bzw. das »Überleben des Stärkeren« sei. Dass der Begriff »Survival of the Fittest« zunächst gar nicht von Charles Darwin selbst geprägt wurde, sondern von Herbert Spencer in seiner Hypothese des Sozialdarwinismus, wissen nur die wenigsten. In unserem Unterbewusstsein verankert sind auch die Bilder von unzähligen TV-Naturdokumentationen, die vor allem, die Einschaltquoten im Auge, den brutalen Wettbewerbsaspekt der Natur in den Vordergrund kehren. Während der Wettbewerb in der Natur zwar sicher ein bedeutendes Element darstellt, gibt es noch erheblich bedeutendere Dynamiken, insbesondere über Netzwerke, Partnerschaften und Symbiosen. Tatsächlich ist ein brutaler Wettbewerb im »Kampf um das Überleben« vermutlich sogar eher die Ausnahme als die Regel. Der Begriff der »Fitness« wurde von Darwin im Zuge seiner Theorie der natürlichen Selektion für jene genetischen oder phänotypischen Eigenschaften von Organismen benutzt, die sie mit ihrer Umwelt am besten zurechtkommen ließen. Zahlreiche dieser Eigenschaften beruhen auf Symbiosen, also dem Zusammenleben von artverschiedenen Organismen mit gegenseitigen Vorteilen.
Der zentrale Punkt in der reduktionistischen wissenschaftlichen Revolution ist der Fokus auf die Einzelteile anstatt auf das Ganze. Diese Vorgangsweise hat, wie bereits erwähnt, durchaus ihre Berechtigung, so gelingt es uns, Komplexität zu reduzieren und die Dinge zu vereinfachen, um einzelne Aspekte betreffend den Zustand der Welt und des Menschen leichter zu erfassen. Allerdings sehen wir uns heute zunehmend mit dem Problem konfrontiert, die Erkenntnisse aus all diesen wissenschaftlichen Disziplinen wieder zu einem sinnvollen großen Ganzen zusammenzuführen. Die Probleme liegen nicht primär in den limitierten Möglichkeiten reduktionistischer Betrachtungsweise (diese lassen sich nicht so leicht beseitigen), sondern in der Tatsache, dass unheimlich viele hoch spezialisierte Wissenschaftler ihre Ergebnisse nur innerhalb ihres sehr reduzierten, weil hoch spezialisierten Expertenkreises diskutieren. Ein Zusammenführen der mittlerweile vorliegenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse aus den unterschiedlichsten Disziplinen auf der höheren Ebene einer systemischen Gesamtbetrachtung ist, bis auf wenige Ausnahmen, immer noch weitgehend Mangelware.
Aber ich möchte noch einmal betonen: Diesen Umstand zur Kenntnis zu nehmen, ist in keiner Weise mit Wissenschaftsfeindlichkeit gleichzusetzen, sondern zeigt lediglich die eindeutigen Grenzen unseres modernen pragmatischen wie reduktionistischen wissenschaftlichen Zuganges. Die Untersuchung komplexer, lebender und offener Systeme mit ihren kaum zu überblickenden Interaktionen, insbesondere auf molekularer Ebene, ist mit den uns derzeit zur Verfügung stehenden Möglichkeiten vollumfänglich schlicht nicht möglich. Ob sie es jemals sein wird, wage ich angesichts der zunehmend zutage tretenden Komplexität ernsthaft zu bezweifeln. Wie der gesamte Organismus ist auch jede einzelne Zelle ein komplexes mehrdimensionales Netzwerk, das sich nur abstrakt und in Einzelteile zerlegt, annähernd verständlich darstellen lässt (Abbildung 1). Wenn wir aber mit differenzierter Sachkenntnis die vielen vorhandenen Puzzleteile zusammensetzen, ergibt sich ein sehr deutliches Bild, aus dem sich dringend konkreter Handlungsbedarf ableiten lässt.
Abbildung 1: Der Autor vor einem Poster mit einer Auswahl der derzeit bekannten klassischen biochemischen Reaktionspfade einer Zelle. Allerdings handelt es sich auch hierbei um eine stark reduktionistische, zweidimensionale Darstellung. Im Unterschied zu diesem statischen und vereinfachten Schema sind die realen metabolischen Netzwerke einer Zelle komplexe dynamische, vierdimensionale Prozesse. Die Realität der Lebensprozesse einer einzigen Zelle lässt sich mit heutigem Kenntnisstand grafi sch nicht darstellen.
Die wissenschaftliche Revolution und ihre Folgen führten zu großen Fortschritten in unserer Gesellschaft. Diese Segnungen des Fortschrittes kamen aber in vielen Fällen zu einem hohen Preis: der Abnabelung und zunehmenden Entfremdung von der Natur, unserem ursprünglichen natürlichen Habitat. Dieser Abschied hinterließ bei den Menschen zunehmend ein inneres Gefühl der Leere, einen unbestimmten Zustand der Unvollständigkeit, der zunehmend in bedingungslosem Konsum, Egoismus, aber auch in Angst und Depression mündete. Es ist heute in jeder westlichen Konsumgesellschaft zu sehen: Wenn wir uns innerlich nicht vollständig fühlen, beginnen wir uns nach Dingen umzusehen, um diese tiefe Leere zu füllen. Das Missachten von tiefergehenden ursprünglichen Zusammenhängen ist, wie ich versuchen möchte darzulegen, eine wesentliche Ursache für die Entstehung vieler Krankheiten und Gesundheitsstörungen.
Die neue Aufklärung: die Welt nach »Fakten«
»Eines der wichtigsten Bücher, die ich je gelesen habe«, lautet das Urteil von Bill Gates über den Bestseller des 2017 verstorbenen schwedischen Mediziners Hans Rosling mit dem Titel: »Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist«.15
Rosling zeichnet in seinem Buch ein durch und durch optimistisches Bild der heutigen Welt und stützt sich dabei im Wesentlichen auf frei verfügbare Statistiken. Und tatsächlich ist der Anteil von Menschen in extremer Armut weltweit genauso zurückgegangen wie die Säuglingssterblichkeit, während sich Bildung und Lebensstandard vieler Menschen deutlich verbesserten. Bezogen auf die von Rosling ausgewählten Punkte, geht es den Menschen heute sicherlich bedeutend besser als noch vor wenigen Jahrzehnten. Diesen Umstand den Lesern näherzubringen, ist die gute Seite des Buches. Etwas verwunderlich ist allerdings die Argumentation Roslings: »Ich verwende gewöhnliche Statistiken, die von der Weltbank und den Vereinigten Nationen erstellt werden. Diese sind unumstritten. Diese Tatsachen stehen nicht zur Diskussion. Ich habe recht, und Sie haben unrecht.« Ein seltsamer Anspruch, zumal Rosling seine Thesen ausschließlich über Medien wie TED-Talks und unterhaltsame Fernsehauftritte verkündete und nicht über wissenschaftliche Publikationen. Seine Aussagen wurden daher auch nie von sachkundigen Kollegen auf Herz und Nieren geprüft.
Dass dieses Buch zu einem gefeierten Bestseller wurde, kann einen aber vor allem angesichts der hoch selektiven und voreingenommenen Datenquellen nur verwundern. Über die katastrophalen ökologischen Folgen der im Buch gefeierten Erfolge des technischen Fortschrittes und des steigenden Wohlstandes und des damit verbundenen Konsums erfährt man rein gar nichts. Ist das die Welt, wie sie wirklich ist?
Geht es nach Rosling, haben viel zu viele Menschen ein völlig verzerrtes, meist allzu düsteres Bild von der Welt. »Das mangelhafte Wissen über die Welt, das so häufig anzutreffen ist«, so Rosling, sei »das beunruhigendste Problem von allen.«
Freilich sind die Menschen durch die tägliche negative Flut von Informationen sensationsgieriger Medien (mittlerweile zum Teil auch inklusive öffentlich rechtlicher Fernsehanstalten) mit Sicherheit einem problematischen Zerrbild der Realität ausgesetzt, allerdings halte ich eine derart selektive Sicht, wie sie Rosling in seinem Buch verkündet, für das erheblich beunruhigendere Problem. Denn eine Politik, die auf einer vereinfachten Weltanschauung wie in Factfulness basiert, könnte schwerwiegende Konsequenzen haben.
Die Weltentwicklung