Nachdenken über Persönlichkeit aus seiner Perspektive Sinn macht. Zwei dieser Rahmenbedingungen sind ihm besonders wichtig:
Psychologische Beschreibungsvokabulare für Persönlichkeit
Soziokulturelle Rahmenbedingungen für Persönlichkeit
Traditionen:
Bei der Sichtung des psychologischen Beschreibungsvokabulars stellt Gergen zwei unterschiedliche Traditionen der Auffassung von Persönlichkeit fest – er nennt diese Traditionen die romantische und die modernistische.
romantisch
Die romantische Tradition bestimmte die Persönlichkeitspsychologie des frühen 19. Jahrhunderts. Persönlichkeit wurde als im tiefsten Inneren des Menschen versenkte, irrationale, geheimnisvolle Innenwelt betrachtet, zu der allenfalls »Seelenverwandte« Zugang gewinnen konnten. Das Vokabular, in dem in dieser Tradition über Persönlichkeit gesprochen wurde, enthielt Begriffe wie »Leidenschaft«, »Inspiration«, »Genie«, »Impuls«, »Kraft«, etc. Diese romantische Tradition findet sich v. a. in der Literatur des 19. Jahrhunderts, aber auch Freud mit seiner Theorie des Unbewussten gehört noch zu dieser romantischen Tradition.
modernistisch
In der modernistischen Tradition wird der Mensch als beobachtbares, durchschaubares, kalkulierbares, zuverlässiges, authentisches, beständiges Wesen betrachtet, das auf der Grundlage von psychologischen Regelhaftigkeiten und Gesetzen agiert. Gergen vergleicht diese Betrachtung mit der Auffassung einer Maschine. Deutlich wird diese Auffassung z. B. in der Lerntheorie, in der »Lerngesetze« formuliert werden; deutlich wird die Auffassung aber auch in der kognitiven Wende in der Psychologie (vgl. Kapitel 2.1.), in der der Mensch als »informationsverarbeitender Apparat« betrachtet wird. Das Vokabular, in dem der Mensch beschrieben wird, ist dem Vokabular der entwickeltsten Maschine, dem Computer, entlehnt. Die modernistische Auffassung reaktiviert Grundgedanken der Aufklärung, z. B. die große Bedeutung von Vernunft. Sie führt zu der optimistischen Haltung, dass es mit Hilfe wissenschaftlicher Beobachtung und Theoriebildung möglich sein könne, Menschen planmäßig nach vorgegebenen Kriterien (zu ihrem Besten) zu verändern, z. B. auszubilden, zu schulen, oder weiterzuentwickeln.
postmodern
Diesen beiden Traditionen stellt Gergen eine dritte Beschreibungsweise gegenüber; diese nennt er »postmodern«. In dieser Beschreibungsweise werden Zweifel formuliert, ob es überhaupt (noch) Sinn macht, von einer einheitlichen Persönlichkeit oder einer Person-wie-sie-wirklich-ist zu sprechen. Diese Zweifel werden aus einer ganzen Reihe von Quellen gespeist; zum einen aus einer zunehmenden Kritik am Anspruch der Objektivität wissenschaftlicher Aussagen, d. h. dem Anspruch, zu sagen, »wie es ist«, und zum anderen aus der Vielzahl unterschiedlicher Theorien über »die Persönlichkeit«. »Es gibt heute keine Stimme, der zugetraut wird, die ›wahre Person‹ aus dem Meer der Portraitierungen retten zu können« (Gergen 1996, S. 232). Die Zweifel an der Gültigkeit der Vorstellung einer einheitlichen Persönlichkeit werden aber auch aus einer Betrachtung der soziokulturellen Entwicklung unserer Gesellschaft genährt. Damit kommen wir zum zweiten Punkt von Gergens Betrachtung – der Analyse aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen.
Gesellschaftliche Entwicklung
Gergens These ist, dass die Vorstellung einer einheitlichen, echten, authentischen, beständigen, zeitlich konstanten Persönlichkeit eines Menschen heutzutage nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Diese Vorstellung wird von einem zivilisatorischen Prozess zerstört, den er »soziale Sättigung« nennt (Gergen 1996, S. 94 ff.). Soziale Sättigung bedeutet v. a. eine dramatische Erweiterung des Beziehungsspektrums des modernen Menschen. Traditionelle Gesellschaftsformen zeichneten sich durch Konstanz und Begrenztheit der Sozialbeziehungen aus – man kannte nur die Leute aus dem eigenen Dorf. Demgegenüber ist es dem modernen Menschen möglich, mit einer Vielzahl von Menschen in Kontakt zu treten und zu bleiben. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Entwicklung haben die »Technologien der sozialen Sättigung« geleistet: moderne Verkehrssysteme (v. a. Flugzeug), Kommunikationstechnologien (Telefon, E-Mail, soziale Netzwerke) und Medien (Film, Fernsehen, Radio) und Computer. Die Technologie brachte »die Menschen in immer unmittelbarere Nähe zueinander, setzte sie einem immer größer werdenden Kreis anderer Menschen aus und förderte eine Spannbreite von Beziehungen, wie sie vorher niemals möglich gewesen wäre.« (Gergen 1996, S. 100). So ermöglichen es diese Technologien z. B., Beziehungen weiter zu führen, auch wenn man mittlerweile räumlich getrennt ist (z. B. in eine andere Stadt gezogen ist) und sie beschleunigen die Beziehungsentwicklung (z. B. von der Beziehungsqualität der Bekanntschaft zur intimen Beziehung).
Gergens These ist, dass das Vokabular unserer Selbstverständigung unter diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr funktioniert. Dies Krisen der Selbstverständigung führt zu einer Vielzahl praktischer Krisen der Selbstverständigung, auf die Gergen aufmerksam macht. Beispiele sind:
man fühlt sich überfordert, all die Beziehungen, die man eingehen konnte, auch zu pflegen und zu wahren;
man entwickelt Schuldgefühle dem eigenen Selbst gegenüber, weil man laufend in bestimmten Rollen agiert, die mit der Selbstwahrnehmung in Konflikt stehen. Man empfindet, dass man dem eigenen Selbst gegenüber »untreu« wird;
man empfindet Unbehagen angesichts der Oberflächlichkeit, mit der man sich in Interaktion bewegt, man beklagt die fehlende Tiefe von Kontakten und Beziehungen;
man ist irritiert, weil die Vorstellung von Aufrichtigkeit, die für die traditionelle Selbstbeschreibung zentral ist, angesichts aktueller gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nicht mehr gewahrt werden kann, weil Beziehungen zu Anderen immer auch aus strategischen Gründen oder zweckgerichteten Absichten geknüpft und aufrechterhalten werden;
man ist befremdet angesichts der Vermarktung von Persönlichkeiten, z. B. in Wahlkämpfen; und spürt die Ohnmacht, angesichts des öffentlichen Bildes eines Menschen seinen wahren Charakter zu erfassen.
Beziehungs-Selbst
Diese zunehmende Trennung von der Vorstellung eines stabilen Persönlichkeitskerns bzw. einer wahren Identität oder eines inneren Wesens macht den Weg frei für eine andere Auffassung des Selbst, eine Auffassung, in der man sich selbst als Ensemble der Sozialbeziehungen begreift, in die man involviert ist – das Selbst als Beziehungsgeflecht. Gergen spricht vom »Beziehungs-Selbst«. Während in den traditionellen Ansätzen das Primat stets auf dem Individuum lag und Sozialbeziehungen gleichsam als Komposition einzelner Individualitäten betrachtet wurden, dreht Gergen dieses Verhältnis um: Man ist jemand stets nur in Bezug auf jemanden anderes. »Wenn es nicht das individuelle ›Ich‹ ist, das Beziehungen schafft, sondern es Beziehungen sind, die das ›Ich‹-Gefühl schaffen, ist das ›Ich‹, das als gut oder schlecht usw. eingeschätzt wird, nicht mehr das Zentrum für Erfolg und Versagen. ›Ich‹ bin nur ein Ich durch die bestimmte Rolle, die ich in einer Beziehung spiele. Erfolge und Versagen, die Erweiterung des Potentials, Verantwortung usw. sind einfach Eigenschaften, die jedem Wesen zugewiesen sind, das einen bestimmten Platz in gewissen Beziehungsformen einnimmt« (Gergen 1996, S. 257).
Gergen betont, dass es töricht wäre, »zu behaupten, dass das Bewusstsein eines Beziehungs-Selbst in der westlichen Kultur weiträumig geteilt wird« (Gergen 1996, S. 257). Gleichwohl beobachtet er, dass sich in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen eine solche Auffassung tendenziell durchsetzt: in der Geschäftswelt wird das Leitbild des autonomen, sich durchsetzenden Selfmade-man zunehmend durch die Vorstellung des interpersonellen Systems ersetzt; in der Psychotherapie konzentriert