um einen »Tiefenschwindel«, eine »Tollhauspsychologie« und einen »Jahrhundertirrtum« (Zimmer 1990)?
Mit seinen Denkansätzen hat Freud zweifellos neue Perspektiven eröffnet. Indem er Neurosen als Symptome psychischer Konflikte interpretierte, die Tragweite frühkindlicher Traumata offen legte und die Bedeutung der Sexualität betonte, schuf er veränderte Möglichkeiten, Entwicklungsprozesse und psychische Prozesse zu interpretieren. Diese neuen Perspektiven wurden vielfach aufgegriffen und in unterschiedlichen Richtungen weiterentwickelt. Betrachtet man Popularität und Anregungsgehalt als Maßstäbe für die Bedeutung einer Theorie, dann ist die psychoanalytische Theorie sicherlich sehr bedeutsam.
Kritik
Nach den Kriterien der gegenwärtigen empirischen Psychologie müssen gegen die Theorie Freuds einige kritische Einwände erhoben werden (in Anlehnung an Gerrig/Zimbardo 2008):
Wichtige (Teil-)Konzepte sind nur verschwommen definiert und lassen sich daher nicht empirisch prüfen.
Das Verhalten wird stets im nachhinein erklärt. Es wurden keine Vorhersagen getroffen, deren Richtigkeit geprüft werden könnte.
Die Datenbasis ist gering und bezieht sich auf »gestörte« Personen. Die Übertragbarkeit der theoretischen Aussagen auf »gesunde« Personen ist nicht belegt.
Die Betonung der frühkindlichen Ereignisse vernachlässigt die Bedeutung aktueller Bedingungen für das Verhalten.
Die Bedeutung einer Theorie ist jedoch nicht nur an ihrer Richtigkeit oder am Umfang ihrer Anwendungsmöglichkeiten zu bewerten, sondern auch an der Initiierung neuer Forschung. Freuds Ansätze waren in dieser Hinsicht äußerst fruchtbar. Seine Gedanken über die Bedeutung der frühen Kindheit wurden vielfach aufgegriffen und weiterentwickelt (z. B. Spitz 2005), manchmal dann auch im Widerspruch zu ihnen (z. B. Bowlby 2006).
Bild der Frau
Für das Bild der Frau in der Gesellschaft und für die Bewertung sexueller Übergriffe hatte Freuds Triebtheorie fatale Folgen. Sexueller Missbrauch, Ausgangspunkt seiner Theoriebildung, konnte im Lichte der Triebtheorie uminterpretiert werden. Nicht Väter (Männer) misshandeln die Kinder, sondern diese phantasieren Vergewaltigungen oder – wenn die Realität nicht geleugnet werden kann – lassen sich ihre geheimen Wünsche erfüllen. Die Opfer werden so zu Komplizinnen der Täter.
Im Bericht über den »Fall Dora« interpretierte Freud (1905 a) den Ekel, den ein vierzehnjähriges Mädchen empfand, als es von einem älteren Mann überrumpelt und gegen seinen Willen geküsst wurde, als hysterisches Symptom. Das Mädchen hätte, seiner Ansicht nach, angenehme sexuelle Empfindungen haben müssen. Das Leiden an sexuellen Übergriffen wird als krankhaft eingestuft. Damit wird eine Legitimation für sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen geliefert.
Die Darstellung der Frau als Mängelwesen und die Zuschreibung negativer Eigenschaften boten eine vermeintlich wissenschaftliche Begründung für die Abwertung von Frauen. Allen, die ein Interesse an ihrer sexuellen Verfügbarkeit hatten und denen ihre Autonomiebestrebungen suspekt waren, mussten Freuds Theorien willkommen sein. Ihre Popularität kann auch unter diesem Aspekt bewertet werden.
3.2.3. Carl R. Rogers: Eine Theorie der Psychotherapie, Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen
Als die entscheidende Triebfeder zur Entwicklung seines theoretischen Konzepts sieht Rogers selbst seine jahrzehntelange therapeutische Arbeit mit Menschen, die persönliche Hilfe brauchen. »Sie stellen für mich den wesentlichen Anreiz meiner psychologischen Überlegungen dar. Aus dieser Arbeit, aus meiner Beziehung zu diesen Menschen, habe ich beinahe all das Wissen bezogen, das ich über die Bedeutung von Therapie, die Dynamik der interpersonellen Beziehungen und der Struktur und Funktion der Persönlichkeit besitze« (Rogers 2009, S. 13).
Carl Rogers, geboren 1902 in einem Vorort von Chicago, wuchs in einer Familie auf, in der »harte Arbeit und ein sehr konservativer (fast fundamentalistischer) Protestantismus ... gleichermaßen geschätzt [wurden]« (Rogers 2009, S. 11). Als Carl zwölf Jahre alt war, zog seine Familie auf eine Farm. Er entwickelte ein starkes Interesse für Agrarwissenschaft, für die er sich später an der University of Wisconsin einschrieb. Später wechselte er zur Theologie, um Pfarrer zu werden, ein Berufsziel, das er zugunsten der Klinischen Psychologie aufgab. Zwölf Jahre lang arbeitete er an einer heilpädagogischen Beratungsstelle für Kinder in Rochester, New York. 1940 wurde er Professor an der Ohio State University. Seine weitere akademische Karriere führte ihn an die Universitäten von Chicago, Wisconsin und La Jolla, California. Er ist der Begründer der Klientzentrierten Psychotherapie. Während seiner Laufbahn hat er stets intensiv als Psychotherapeut gearbeitet. Carl Rogers starb 1987.
Da jede Intervention und Therapie (zumindest implizit) mit theoretischen Vorstellungen wenigstens über Psychotherapie speziell, über Personen allgemein und über Interaktionen getränkt ist, war es nur konsequent, dass diese Vorstellungen nach und nach expliziert wurden. Obwohl es sich um eine integrale Theorie über Therapie, Personen und Interaktionen handelt, wird in diesem Abschnitt nur die Facette »Theorie der Persönlichkeit« behandelt. Die Aspekte der Psychotherapie werden dagegen im Rahmen der klientenzentrierten Therapie ausführlicher dargestellt (7.4.).
Grundlegende Konstrukte: Organismus
Für Rogers Theorie der Persönlichkeit sind zwei Konstrukte und deren Beziehung zueinander grundlegend: Organismus und Selbst. Der Organismus ist der Ort allen Erlebens und aller Erfahrung. Dazu gehört alles, was im Körper vor sich geht, sofern es (wenigstens potentiell) bewusst wahrgenommen (»symbolisiert«) werden kann. Dies ist das Wahrnehmungsfeld, das nur die Person selbst wahrnimmt und von Außenstehenden niemals in gleicher Form wahrgenommen, allenfalls mehr oder weniger angenähert erschlossen werden kann. Das Wahrnehmungsfeld ist das individuelle Bezugssystem der Person; es ist die Realität für die Person. Auf diese Realität reagiert der Organismus als »organisiertes Ganzes«.
In einer »Fallgeschichte eines Konstruktes« schildert Rogers (1987, S. 26 – 29), wie sich das Selbst vom vagen wissenschaftlich bedeutungslosen zum zunehmend präziser definierten Begriff (Begriffssystem) wandelte. Unter Selbst Selbst, Selbstkonzept, Selbststruktur bzw. Selbstideal versteht Rogers (1987, S. 26):
»Diese Begriffe beziehen sich auf die organisierte, in sich geschlossene Gestalt. Diese beinhaltet die Wahrnehmungscharakteristiken des Ich, die Wahrnehmungen der Beziehungen zwischen dem Ich und anderen und verschiedenen Lebensaspekten, einschließlich der mit diesen Erfahrungen verbundenen Werte. Dieser Gestalt kann man gewahr werden, sie ist jedoch nicht notwendigerweise gewahr. Es handelt sich um eine fließende, eine wechselnde Gestalt, um einen Prozeß, der zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine spezifische Wesenheit ist, zumindest teilweise durch operationale Begriffe erfaßbar ...«
Selbstideal
»Selbstideal (oder Ideal-Selbst) bezeichnet das Selbstkonzept, das eine Person am liebsten besäße, worauf sie für sich selbst den höchsten Wert legt.«
Kongruenz
Die Beziehungen zwischen Organismus und Selbst sind durch Kongruenz bzw. Inkongruenz gekennzeichnet. Wenn die Erfahrungen, die das Selbst bilden, die tatsächlichen Erfahrungen des Organismus unverfälscht und unverzerrt abbilden, dann ist eine Person kongruent (oder reif, integriert, ausgeglichen, psychisch gesund). Inkongruenz liegt vor, wenn die Erfahrungen von Selbst und Organismus nicht übereinstimmen.
Ein populäres Beispiel ist der Junge, der wahrnimmt, dass es ihm Spaß macht, seine kleine Schwester zu ärgern. Wahrscheinlich haben seine Eltern dies aber verboten. Er wird sich vielleicht sagen, dass er ein braver Sohn ist, der seine Schwester nicht ärgert. Es besteht eine Inkongruenz zwischen Selbstkonzept (»Ich selbst bin ein braver Junge, der keinen Spaß darin findet, kleine Mädchen zu ärgern«) und der organismischen Erfahrung (»Es macht Spaß, kleine Mädchen zu ärgern«). Inkongruenz