oder weniger deutlich von diesem Mittelbereich ab, wenige liegen in den beiden Extrembereichen. Je weiter sich Personen vom Mittelbereich entfernen, desto relativ unähnlicher werden sie den vielen Personen im Mittelbereich.
Ab wann ist aber eine Person vom Mittelbereich so weit abweichend, dass man sagen könnte, sie sei anders als die anderen? Zur Beantwortung dieser Frage hat sich eine statistische Konvention eingebürgert, die besagt, dass alle Personen, die mehr als eine Standardabweichung s (Kap. 2.6.4.) vom Mittelwert abweichen, als »unter-« bzw. »überdurchschnittlich« betrachtet werden. Dies ist in der folgenden Abbildung dargestellt.
Nach dieser Definition haben stets, wegen der mathematischen Eigentümlichkeiten der Normalverteilung, bei jedem entsprechenden Merkmal jeweils etwa 16 % aller Personen über- bzw. unterdurchschnittliche und etwa 68 % durchschnittliche Messwerte. Diese Klassifikation bedeutet für sich noch keine Wertung. Überdurchschnittlich intelligent zu sein, wird beispielsweise positiv gewertet, überdurchschnittlich emotional erregbar zu sein, wohl eher negativ. Die Wertung, ob Unterschiede für wichtig oder unwichtig, für positiv oder negativ gehalten werden, ergibt sich nicht aus dem statistischen Modell der Normalverteilung, sondern aus der inhaltlichen Fragestellung.
3.1.5. Sprachliche Beschreibung von Individualität
Dass man mit Sprache die Individualität eines Menschen, seine Eigenarten, seine Neigungen oder sein Verhalten vorzüglich und anschaulich beschreiben kann, zeigen uns hervorragende Schriftsteller immer wieder. Sprache, gut beherrscht, ist ein exzellentes Mittel zur Beschreibung von Personen in ihrer Gleichheit und Verschiedenheit. Gerade darin liegt, so paradox dies zunächst auch klingen mag, eine Schwierigkeit der psychologisch fundierten Personenbeschreibung.
Unschärfe von Begriffen
Eine psychologische Personenbeschreibung kann, von wenigen Fachbegriffen einmal abgesehen, nur die Begriffe der Umgangssprache verwenden. Fachbegriffe und umgangssprachliche Begriffe können unter Umständen gleich lauten, aber doch zumindest teilweise etwas Unterschiedliches bedeuten. Nicht selten gehen psychologische Fachbegriffe in den umgangssprachlichen Wortschatz über (wie etwa »Motivation«, »Frustration« oder »neurotisch«) und verändern dabei teilweise ihre ursprüngliche Bedeutung.
In dem Maße, in dem psychologische Beschreibungen umgangssprachlich formuliert sind, unterliegen sie denselben Prozessen der Bedeutungsveränderung wie sonstige sprachliche Beschreibungen auch. Wenn ein Romantext bei mehreren Personen unterschiedliche Eindrücke hervorruft, ist dies wahrscheinlich weniger gravierend. Das kann dem Text sogar einen besonderen Reiz geben. Wenn jedoch aus einem psychologischen Gutachten unterschiedliche Eindrücke und Schlussfolgerungen möglich sind, dann können sich durchaus schwerwiegende Problemlagen ergeben.
vier Ebenen der Beschreibung
Personenbeschreibungen können aufgrund der verfügbaren Begriffe nur mehr oder weniger eindeutig sein. Der Versuch, sie in eindeutigen, nicht umgangssprachlichen Begriffen abzufassen, führt dagegen leicht in Unverständlichkeit. Es scheint zumindest die Gefahr eines Dilemmas zwischen Eindeutigkeit und Unverständlichkeit zu bestehen. Es lohnt also, sich die sprachlichen Möglichkeiten zur Personenbeschreibung einmal näher anzusehen.
Graumann (1964) unterscheidet vier Modi oder Ebenen sprachlicher Beschreibung. Sie sollen an einem Beispiel erläutert werden.
Angenommen, ein vierjähriges Kind sei weinend im Einkaufstrubel einer Fußgängerzone allein aufgefunden worden. Es wird von einer Mitarbeiterin des Jugendamtes abgeholt. Sie muss nun einen Bericht über diesen Vorfall schreiben. Folgende Möglichkeiten stehen ihr zur Verfügung:
Modi verbaler Beschreibung:
(1) Der verbale Modus: »Das Kind weinte.«
verbal
Die Person wird in ihrem Verhalten unter Verwendung von Verben beschrieben. Der Leser erfährt nur, was die Person tut. Diese Beschreibung ist relativ eindeutig.Ob das Kind weinte oder nicht, ist ziemlich unzweifelhaft feststellbar.
adverbial
(2) Der adverbiale Modus: »Das Kind weinte verzweifelt.«
Die Person wird in ihrem Verhalten unter Verwendung von Verben und Adverbien beschrieben. Diese Aussage enthält eine Schlussfolgerung des Beschreibenden über das »Wie« des Verhaltens. Ob das Kind wirklich »verzweifelt« weinte, ist schon weniger eindeutig.
adjektivisch
(3) Der adjektivische Modus: »Das Kind war verzweifelt.«
Die Person wird mit Adjektiven beschrieben. Man erfährt bereits nichts mehr über das konkrete Verhalten, dafür aber etwas darüber, wie die Person ist. Dies sind bereits weitgehende Schlussfolgerungen des Beschreibenden, die unter Umständen nur noch schwer nachvollziehbar sind.
substantivisch
(4) Der substantivische Modus: »Die Verzweiflung des Kindes war groß.« Die Person wird in Substantiven beschrieben. Dabei sind dann überdauernde Persönlichkeitsmerkmale oder Zustände beschrieben. Der Beschreibende geht also in seinen Schlussfolgerungen noch einen Schritt weiter und entfernt sich noch mehr vom konkreten Verhalten.
Von Stufe zu Stufe nehmen die Schlussfolgerungen zu, die der Beschreibende hinzufügt.
In einer Berufspraxis, in der über Personen beraten, Stellungnahmen abgegeben oder zur Kenntnis genommen werden müssen, sollten daher Personenbeschreibungen im adjektivistischen oder substantivischen Modus durch Erläuterungen im verbalen und adverbialen Modus präzisiert werden. In der psychologischen Fachsprache ist dieses Problem insofern eingegrenzt, als die Begriffe über Personenmerkmale sehr häufig operational definiert sind. Findet man zum Beispiel in einem psychologischen Gutachten eine Aussage über das Ausmaß des Neurotizismus einer Person, dann beschränkt sich diese Aussage im strengen Sinne zunächst nur auf die Fragen, mit denen Neurotizismus abgefragt wurde. Will man psychologische Aussagen verstehen, so ist es daher unumgänglich notwendig, die Methoden zu kennen, auf denen sie beruhen. Die sprachlichen Etiketten reichen nicht aus.
3.2. Drei Beispiele von Persönlichkeitstheorien
3.2.1. Vorbemerkung
In der Psychologie existiert keine einheitliche, verbindliche Definition von Persönlichkeit. »Mit der Persönlichkeit ist es wie mit der Liebe. – Jedermann weiß, dass es sie gibt, aber niemand weiß, was sie ist!« (Cattell 1973, S. 41, unsere Übersetzung). Die Anzahl entsprechender Definitionsversuche dürfte inzwischen dreistellig sein. Die Definition von Persönlichkeit verändert sich, wie im Alltag, unter den verschiedenen Blickwinkeln, unter denen Individuen betrachtet werden können. Dies muss all diejenigen enttäuschen, die von einer wissenschaftlichen Psychologie eine Antwort auf die philosophische Frage nach dem Wesen des Menschen erwarten. Eine empirische Persönlichkeitspsychologie, die »nur« danach fragt, wie menschliches Verhalten und Erleben beschrieben, erklärt und verändert werden kann, versteht »Persönlichkeit« ohnehin nur als hypothetisches Konstrukt, das nicht unbedingt abschließend definiert zu werden braucht.
Bezieht man sich nicht auf das Wesen des Menschen, sondern auf sein Verhalten und Erleben, dann lässt sich wenigstens einigermaßen übereinstimmend angeben, womit sich die Persönlichkeitspsychologie beschäftigt. Sie befasst sich mit den relativ überdauernden Verhaltens- und Erlebensunterschieden zwischen Individuen und deren Entwicklung.
Persönlichkeitstheorien werden von Wissenschaftlern entwickelt. Sie sind selbst Persönlichkeiten mit Vorlieben und Abneigungen, mit persönlichen Überzeugungen, mit Weltanschauungen und mit unterschiedlichen Menschenbildern. Ihre Theorien entsprechen ihrer Persönlichkeit. So wie wir selbstverständlich akzeptieren, dass ein Porträt von Lucas Cranach anders aussieht als eines von Picasso, müssen wir akzeptieren, dass Psychologen ebenfalls unterschiedliche Bilder (Theorien) vom Menschen entwerfen. Wir werden also eine Vielzahl unterschiedlichster Persönlichkeitstheorien vorfinden.
Die Frage, welche dann die richtige Theorie sei, ist dabei wenig fruchtbar.