ginge um die Fragestellung, ob es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Videokonsum und Aggressivität bei Jugendlichen gibt.
Hypothese
Beim experimentellen Vorgehen würde die Frage nach einem Zusammenhang präzisiert zu einer Hypothese: »Erhöhter Konsum von Horror-Videos führt zur Steigerung der Aggressivität«.
Plan
Ein möglicher Untersuchungsplan: Einer Gruppe von Jugendlichen werden ausgewählte Horror-Videos gezeigt (Experimentalgruppe). Vorher und nachher erfasst man ihr aggressives Verhalten. Eine zweite Gruppe sieht währenddessen »harmlose« Videos (Kontrollgruppe). Auch bei ihnen wird das aggressive Verhalten vor und nach dem Videokonsum erfasst.
Ergebnis
Ein mögliches Ergebnis: Die Experimentalgruppe zeigt nach dem Videokonsum stärkeres aggressives Verhalten als vorher und als die Kontrollgruppe.
Leistung des Experimentes: Eindeutiger Nachweis der Wirkungsweise der ausgewählten Videos.
Offene Fragen: Werden Jugendliche, die sich solche Videos anschauen, sich auch in natürlichen Situationen (z. B. Jugendbegegnungsstätte) aggressiver verhalten? Dort werden sie durch viele weitere Faktoren beeinflusst sein (Freunde, Betreuer, Langeweile, Drogen), die ihr aggressives Verhalten ebenfalls fördern oder hemmen können. Das aggressive Verhalten in natürlichen Situationen wird aufgrund des experimentellen Ergebnisses allein nur unzulänglich vorhersagbar sein.
Feldforschung
In der Feldforschung (Ethnographie) wird das Verhalten von Menschen in natürlichen Situationen beobachtet und die Menschen werden zu ihren Verhaltensweisen befragt. Ziel ist es, zu einem genauen Verständnis des Verhaltens bzw. der Situation zu gelangen. Es geht um möglichst reiche, »dichte« Beschreibungen der Sichtweisen der Beteiligten und des Zusammenspiels ihrer Verhaltensweisen. Der Vorteil der Feldforschung liegt in ihrer Realitätsnähe, womit ein höheres Maß an praktischer Relevanz erreicht werden kann. Als Nachteil muss die eingeschränkte Eindeutigkeit und Generalisierbarkeit in Kauf genommen werden.
Fragestellung
Auch bei der Feldforschung erfolgt als erstes eine Zuspitzung der Fragestellung, hier zum einen hinsichtlich der untersuchten Situation, und zum anderen hinsichtlich einer genaueren Bestimmung, was »Zusammenhang« heißen soll.
Die Zuspitzung könnte dann im gewählten Beispiel lauten: »Die Bedeutung von Horror-Videos im Zuge aggressiven Verhaltens von Jugendlichen einer Jugendbegegnungsstätte«.
Plan
Ein möglicher Plan: Das Phänomen aggressiven Verhaltens der Jugendlichen wird möglichst genau beobachtet (z. B. mit Videokameras) und differenziert (z. B. spielerische Aggression, imitierte Aggression, Aggression als Bestandteil von Status-Wettkämpfen, Aggression mit Zuschauerbeteiligung, etc.). Außerdem werden die Jugendlichen möglichst genau nach ihren Sehgewohnheiten von Horror-Videos befragt.
Ergebnis
Ein mögliches Ergebnis: Horror-Videos haben eine große Bedeutung als Rollen-Lieferant für imitierte Aggressionen und Aggressionen mit Zuschauerbeteiligung. Bestimmte Videos dienen außerdem als Zitatenschatz zur Identifikation von Subgruppen innerhalb des Jugendzentrums.
Leistung der Feldforschung: Es entsteht ein genaues Verständnis der Bedeutung von Videos für die Begegnungen der Jugendlichen.
Offene Fragen: Welches sind die Ursachen der individuell unterschiedlichen Aggressivität der Jugendlichen?
2.6. Daten und Konstrukte in der empirischen Psychologie
2.6.1. Die Bedeutung von Daten im psychologischen Erkenntnisprozess
Fakten/Daten
Bleiben wir beim Beispiel des Zusammenhangs von Aggressivität und dem Konsum von Horror-Videos. Die Psychologin macht im Zuge ihres methodischen Vorgehens Verhaltensbeobachtungen bei den Jugendlichen: Sie protokolliert Beschimpfungen, notiert Schlägereien, misst die Lautstärke von Drohungen, erfasst physiologische Reaktionen (Blutdruck, Pulsfrequenz), nimmt verbale Duelle auf Tonband auf oder zeichnet Mimik und Gestik auf Video auf. Außerdem befragt sie die Jugendlichen nach ihrem Videokonsum. So gewinnt sie eine Vielzahl unterschiedlicher Fakten. Diese Fakten jedoch haben für sich genommen keine Bedeutung. Das Faktum, dass ein Jugendlicher fünfmal am Tag eine Schlägerei provoziert hat, erhält seine Bedeutung erst dann, wenn die Psychologin es als Ausdruck von Aggressivität interpretiert. Diese Interpretation erfolgt durch die Theorie, an der die Psychologin sich in ihrer Untersuchung orientiert. An dieser Stelle wird deutlich, dass es ohne Theorie nicht geht (man stünde sonst vor einer Unmenge von Fakten, die einem »nichts sagen« würden) und dass es in der Tat nichts Praktischeres gibt als eine Theorie, weil sie der Psychologin dazu verhilft, Fakten verstehen und einordnen zu können. Theoriegeleitet interpretierte Fakten bezeichnet man als Daten.
In unserem alltäglichen Nachdenken über andere Menschen vollziehen wir solche Interpretationen automatisch – wer sich viel prügelt, ist aggressiv. Für uns ist selbstverständlich: Prügelei ist ein Ausdruck von Aggressivität. Von solchen alltagsweltlichen Kurzschluss-Theorien unterscheiden sich psychologische Theorien dadurch, dass der Zusammenhang von Theorien und Fakten theoretisch und empirisch begründet wird. Das bedeutet nicht, dass eine Psychologin Fakten nicht auch durch ihre »alltagsweltliche Brille« betrachtet – in der Tat tut sie dies (vgl. Cicourel 1974). Gerade deswegen aber ist sie in besonderer Weise gefordert, ihre alltagsweltlichen Interpretationen zu reflektieren und zu kontrollieren.
2.6.2. Die Interpretation von Daten
hypothetisches Konstrukt
»Aggressivität« hat den Status eines hypothetischen Konstrukts. Mit dieser Bezeichnung soll deutlich gemacht werden, dass es sich dabei um eine nicht beobachtbare, vermutete oder angenommene Größe handelt. Sehr viele Phänomene, mit denen sich die Psychologie beschäftigt, sind nicht direkt beobachtbar – man kann Intelligenz nicht sehen, und auch nicht Egoismus, Schüchternheit oder eben Aggressivität.
Woran erkennt man beispielsweise, dass Peter introvertiert ist? Seine Introversion selbst kann man nicht sehen, wohl aber kann man beobachtbare Sachverhalte feststellen, die für Introversion sprechen:
Er geht selten aus.
In Gesellschaft spricht er wenig.
Er meidet gesellige Veranstaltungen.
Er macht häufig allein Spaziergänge.
Er hat wenige Freunde.
Er sagt, er sei gern allein.
Operationalisierung
Das Vorgehen der Zuordnung eines hypothetischen Konstrukts zu beobachtbaren Sachverhalten nennt man Operationalisierung.
Man mag darüber streiten, ob z. B. die operationale Definition für Introversion vernünftig ist oder nicht – die entscheidende Leistung wissenschaftlicher Tätigkeit besteht gerade darin, dass man solche Debatten führen kann, weil der Zusammenhang von Daten und Theorie explizit gemacht wird, während im Alltagsleben solche Interpretationen meist stillschweigend vollzogen werden und deshalb nicht aufgedeckt und kritisch hinterfragt werden können.
Sämtliche Begriffe, die sich auf psychische Sachverhalte beziehen, die grundsätzlich als in der Person liegend betrachtet werden, sind hypothetische Konstrukte. Einige von ihnen sind relativ gut definiert (z. B. Intelligenz), andere weniger (z. B. Kreativität).
Hypothetische Konstrukte spielen eine zentrale Rolle in der psychologischen Forschung