Entwicklungsdynamik der Person ergibt sich aus der Aktualisierungstendenz, d. h. der Tendenz des Organismus, sich zu entfalten und sich zu erhöhen. Als ein Beispiel für diese Tendenz kann das Bemühen des Kleinkindes interpretiert werden, unter Mühen und Anstrengung den aufrechten Gang zu lernen, obwohl das Krabbeln (zunächst) eine leichtere und effektivere Art der Fortbewegung darstellt.
Die Aktualisierungstendenz kann durch das Bedürfnis nach Zuwendung einerseits und/oder nach Schutz des Selbst andererseits beeinträchtigt werden. Wenn etwa eine Person versucht, so zu sein, wie man es von ihr erwartet, statt so zu sein wie sie selbst, dann tut sie das möglicherweise, um Zuwendung zu erhalten. Es entsteht eine entwicklungsbeeinträchtigende Inkongruenz. Personen haben auch das Motiv, ihr Selbst vor Veränderung oder Instabilität zu schützen. Erfahrungen, die mit dem Selbst nicht kongruent sind, werden als bedrohlich erlebt und dementsprechend abgewehrt (vermieden, verleugnet, verfälscht, usw.). Auch in diesem Fall entsteht eine entwicklungsschädigende Inkongruenz.
An dieser Stelle lässt sich der fließende Übergang zur Theorie der Psychotherapie beschreiben. In der Therapie muss es möglich sein, die Aktualisierungstendenz zu fördern, indem das Bedürfnis nach Zuwendung angemessen verwirklicht wird und inkongruente Erfahrungen nicht länger abgewehrt werden. Insgesamt geht es darum, Kongruenz herzustellen.
Die bereits zitierte Veröffentlichung (Rogers 1987) gilt als die authentische, grundlegende Darstellung der Theorie von Rogers selbst. Bereits vorher hatte er seine Theorie in Form von neunzehn Thesen beschrieben (Rogers 1973, S. 417 – 449).
»I. | 19 Thesen Jedes Individuum existiert in einer ständig sich ändernden Welt der Erfahrung, deren Mittelpunkt es ist.« | |
»II. | Der Organismus reagiert auf das Feld, wie es erfahren und wahrgenommen wird. Dieses Wahrnehmungsfeld ist für das Individuum ›Realität‹.« | |
»III. | Der Organismus reagiert auf das Wahrnehmungsfeld als ein organisiertes Ganzes.« | |
»IV. | Der Organismus hat eine grundlegende Tendenz, den Erfahrungen machenden Organismus zu aktualisieren, zu erhalten und zu erhöhen.« | |
»V. | Verhalten ist grundsätzlich der zielgerichtete Versuch des Organismus, seine Bedürfnisse, wie sie in dem so wahrgenommenen Feld erfahren wurden, zu befriedigen.« | |
»VI. | Dieses zielgerichtete Verhalten wird begleitet und im allgemeinen gefördert durch Emotion, eine Emotion, die in Beziehung steht zu dem Suchen aller vollziehenden Aspekte des Verhaltens, und die Intensität der Emotion steht in Beziehung zu der wahrgenommenen Bedeutung des Verhaltens für die Erhaltung und Erhöhung des Organismus.« | |
»VII. | Der beste Ausgangspunkt zum Verständnis des Verhaltens ist das innere Bezugssystem des Individuums selbst.« | |
»VIII. | Ein Teil des gesamten Wahrnehmungsfeldes entwickelt sich nach und nach zum Selbst.« | |
»IX. | Als Resultat der Interaktion mit der Umgebung und insbesondere als Resultat wertbestimmender Interaktion mit anderen wird die Struktur des Selbst geformt – eine organisierte fließende, aber durchweg begriffliche Struktur von Wahrnehmungen von Charakteristika und Beziehungen des ›Selbst‹ zusammen mit den zu diesen Konzepten gehörenden Werten.« | |
»X. | Die den Erfahrungen zugehörigen Werte und die Werte, die ein Teil der Selbst-Struktur sind, sind in manchen Fällen Werte, die vom Organismus direkt erfahren werden, und in anderen Fällen Werte, die von anderen introjiziert oder übernommen, aber in verzerrter Form wahrgenommen werden, so als wären sie direkt erfahren worden.« | |
»XI. | Wenn Erfahrungen im Leben des Individuums auftreten, werden sie entweder a) symbolisiert wahrgenommen und in eine Beziehung zum Selbst organisiert, b) ignoriert, weil es keine wahrgenommene Beziehung zur Selbst-Struktur gibt, oder c) geleugnet oder verzerrt symbolisiert, weil die Erfahrung mit der Struktur des Selbst nicht übereinstimmt.« | |
»XII. | Die vom Organismus angenommenen Verhaltensweisen sind meistens die, die mit dem Konzept vom Selbst übereinstimmen.« | |
»XIII. | Verhalten kann in manchen Fällen durch organische Bedürfnisse und Erfahrungen verursacht werden, die nicht symbolisiert wurden. Solches Verhalten kann im Widerspruch zur Struktur des Selbst stehen, aber in diesen Fällen ist das Verhalten dem Individuum nicht ›zu eigen‹.« | |
»XIV. | Psychische Fehlanpassung liegt vor, wenn der Organismus vor dem Bewußtsein wichtige Körper- und Sinnes-Erfahrungen leugnet, die demzufolge nicht symbolisiert und in Gestalt der Selbst-Struktur organisiert werden. Wenn diese Situation vorliegt, gibt es eine grundlegende oder potentielle psychische Spannung.« | |
»XV. | Psychische Anpassung besteht, wenn das Selbst-Konzept dergestalt ist, daß alle Körper- und Sinnes-Erfahrungen des Organismus auf einer symbolischen Ebene in eine übereinstimmende Beziehung mit dem Konzept vom Selbst assimiliert werden oder assimiliert werden können.« | |
»XVI. | Jede Erfahrung, die nicht mit der Organisation oder der Struktur des Selbst übereinstimmt, kann als Bedrohung wahrgenommen werden, und je häufiger diese Wahrnehmungen sind, desto starrer wird die Selbst-Struktur organisiert, um sich zu erhalten.« | |
»XVII. | Unter bestimmten Bedingungen, zu denen in erster Linie ein völliges Fehlen jedweder Bedrohung für die Selbst-Struktur gehört, können Erfahrungen, die nicht mit ihr übereinstimmen, wahrgenommen und überprüft und die Struktur des Selbst revidiert werden, um derartige Erfahrungen zu assimilieren und einzuschließen.« | |
»XVIII. | Wenn das Individuum all seine Körper- und Sinneserfahrungen wahr- und in ein konsistentes und integriertes System aufnimmt, dann hat es notwendigerweise mehr Verständnis für andere und verhält sich gegenüber anderen als Individuen akzeptierender.« | |
»XIX. | Wenn das Individuum mehr von seinen organischen Erfahrungen in seiner Selbst-Struktur wahrnimmt und akzeptiert, merkt es, daß es sein gegenwärtiges Wert-System, das weitgehend auf verzerrt symbolisierten Introjektionen beruht, durch einen fortlaufenden, organismischen Wertungsprozeß ersetzt.« |
Bewertung
Die damit kurz skizzierte Persönlichkeitstheorie von Rogers erhält ihre volle Bedeutung nur in ihrer Verzahnung mit der Theorie zur Psychotherapie und der zwischenmenschlichen Beziehungen (Kap. 7.4.). Das von ihm entwickelte Konzeptder Therapie war bahnbrechend und beeinflusste nicht nur die zeitgenössische klinische Psychologie. Seine Denkweise hat in vielen Bereichen der Praxis von der Pädagogik bis hin zur Betriebspsychologie einen weiten Eingang gefunden. »Selbstverwirklichung« ist auch eines der Themen im alltäglichen Leben. Die von Rogers und Kolleginnen und Kollegen begründete und geförderte »humanistische Psychologie« ist eine der großen psychologischen Schulen der Gegenwart, deren Attraktivität sich auch an dem andauernden publizistischen Erfolg der hier zitierten Werke ablesen lässt (Rogers 2009, 2012).
3.2.4. Kenneth J. Gergen: Persönlichkeit als soziale Konstruktion
Die beiden bisher vorgestellten Persönlichkeitstheorien hatten – bei aller Unterschiedlichkeit – einen gemeinsamen Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, nämlich, dass jeder Mensch eine ihm eigene, unverwechselbare, beständige, stabile Persönlichkeit besitzt. Der im Folgenden vorgestellte Ansatz unterscheidet sich von diesen und anderen Persönlichkeitstheorien radikal dadurch, dass er den Gegenstand solcher Theorien, die Idee von Persönlichkeit selbst, kritisch hinterfragt und in ganz anderer Weise als die bisher vorgestellten Theorien psychologisch ausdeutet.
Kenneth Gergen ist Professor für Psychologie am Swarthmore College in Pennsylvania, USA. Einer seiner Vorgänger dort war Kurt Lewin. Aus umfangreichen Forschungsarbeiten zur Selbstwahrnehmung in der Rogers-Tradition heraus entwickelte er eine zunehmend kritische Haltung dem Selbst-Konzept gegenüber. Durch zahlreiche Gastaufenthalte in Europa, u. a. in Marburg und Heidelberg, hat er europäische, philosophische Denkhaltungen in seine Arbeiten integriert. Er gilt als einer der führenden Vertreter konstruktivistischen Denkens in der Psychologie. Gergen ist Mitbegründer des Taos Institute, New Mexico, zur Förderung sozialkonstruktivistischen Denkens in der Praxis.
»Wer bin ich?«, »Wer bin ich im Kern meines Wesens?«, »Welches ist mein wahrer Charakter?«, »Was ist mein eigentliches Ich?«, »Wer bin ich im Grunde meiner Persönlichkeit?«, »Durch welche Persönlichkeitsmerkmale