Umsetzung des österreichisch-ungarischen Reichs. Dort wird die »Parallelaktion« gegründet, eine »vaterländische Bewegung«, die den bevorstehenden Geburtstag des Kaisers würdig begehen und die Feier gleichzeitig dazu nutzen soll, der restlichen Welt ein erlösendes Vorbild zu geben.
Die Verantwortlichen dieser Parallelaktion, von Musil als lächerliche Hampelmänner dargestellt, sind also alle auf der Suche nach einem »erlösenden Gedanken«, den sie unablässig in einem Stil heraufbeschwören, der umso vager bleibt, als sie nicht die leiseste Ahnung haben, wie er aussehen könnte, noch was ihn auszeichnen soll, außerhalb des Landes eine Heilsfunktion auszuüben.
Eine der lächerlichsten Figuren unter den Initiatoren der Parallelaktion ist General Stumm. Dieser hat sich vorgenommen, den erlösenden Gedanken vor allen anderen zu finden und ihn der Frau, die er liebt, zu schenken, Diotima, eine weitere Persönlichkeit im Umfeld der Parallelaktion:
»›Du erinnerst Dich‹, sagte er, ›daß ich mir in den Kopf gesetzt habe, den erlösenden Gedanken, den Diotima sucht, ihr zu Füßen zu legen. Es gibt, wie sich zeigt, sehr viele bedeutende Gedanken, aber einer muß schließlich der bedeutendste sein; das ist doch nur logisch? Es handelt sich also bloß darum, Ordnung in sie zu bringen.‹«[2]
Wenig vertraut mit Gedanken und ihrer Handhabung, noch weniger mit der Technik, neue zu entwickeln, beschließt der General, sich in die Hofbibliothek zu begeben, ein grundsätzlich idealer Ort, um sich mit ungewöhnlichen Gedanken auszustatten, wo er sich »über die Stärke des Gegners Klarheit zu verschaffen« und auf eine möglichst organisierte Weise zu der originellen Idee zu gelangen hofft, nach der er sucht.
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Der Besuch in der Bibliothek jedoch versetzt den General, der unter Büchern nicht zu Hause ist, in große Angst, da er mit einem Wissen konfrontiert wird, das ihm keinerlei Orientierung bietet und über das er nicht die vollständige Befehlsgewalt hat, die er als Militär gewohnt ist:
»Wir sind den kolossalen Bücherschatz abgeschritten, und ich kann sagen, es hat mich weiter nicht erschüttert, diese Bücherreihen sind nicht schlimmer als eine Garnisonsparade. Nur habe ich nach einer Weile anfangen müssen, im Kopf zu rechnen, und das hatte ein unerwartetes Ergebnis. Siehst du, ich hatte mir vorher gedacht, wenn ich jeden Tag da ein Buch lese, so müßte das zwar sehr anstrengend sein, aber irgendwann müßte ich damit zu Ende kommen und dürfte dann eine gewisse Position im Geistesleben beanspruchen, selbst wenn ich ein oder das andere auslasse. Aber was glaubst du, antwortet mir der Bibliothekar, wie unser Spaziergang kein Ende nimmt und ich ihn frage, wieviel Bände denn eigentlich diese verrückte Bibliothek enthält? Dreieinhalb Millionen Bände, antwortet er!! Wir sind da, wie er das sagte, ungefähr beim siebenhunderttausendsten Buch gewesen, aber ich habe von dem Augenblick an ununterbrochen gerechnet; – ich will es dir ersparen, ich habe es im Ministerium noch einmal mit Bleistift und Papier nachgerechnet: Zehntausend Jahre würde ich auf diese Weise gebraucht haben, um mich mit meinem Vorsatz durchzusetzen!«[3]
Von dieser Konfrontation mit der Unendlichkeit der Lektüremöglichkeiten ist es nicht mehr weit bis zu dem Gedanken der Ermutigung zum Nichtlesen. Denn wie sollte man angesichts der unermesslichen Zahl von veröffentlichten Büchern nicht zum Schluss kommen, dass jedes Leseunterfangen, selbst wenn es auf ein ganzes Leben verteilt wird, vergebliche Liebesmüh ist im Hinblick auf all die Bücher, die für immer unbeachtet bleiben müssen?
Lesen bedeutet in erster Linie nicht lesen, und selbst bei den großen Lesern, die ihr ganzes Leben dieser Tätigkeit verschrieben haben, verbirgt die Geste des Ergreifens und Öffnens eines Buches stets die ihr entgegengesetzte, die darin enthalten ist und demzufolge unbemerkt bleibt: die unfreiwillige Geste des Nichtergreifens oder Zuklappens sämtlicher Bücher, die bei einer anderen Organisation der Welt an die Stelle des glücklich auserwählten hätten treten können.
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Der Mann ohne Eigenschaften greift zwar das alte Problem von Kultur und Unendlichkeit auf, doch stellt er auch eine mögliche Lösung vor, jene nämlich, die sich General Stumms Bibliothekar zu eigen macht. Denn dieser hat ein Mittel gefunden, sich, wenn auch nicht unter sämtlichen Büchern der Welt, so doch zumindest unter den Millionen von Büchern seiner Bibliothek zurechtzufinden. Seine Methode, die von großer Schlichtheit ist, ist ebenso einfach in der Anwendung:
»Wie ich ihn nicht gleich loslasse, richtet er sich plötzlich auf, er ist förmlich aus seinen schwankenden Hosen herausgewachsen, und sagt mit einer Stimme, die jedes Wort bedeutungsvoll gedehnt hat, als ob er jetzt das Geheimnis dieser Wände aussprechen müßte: ›Herr General‹, sagt er, ›Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese!‹«[4]
Daher die Überraschung des Generals, als er mit diesem ziemlich speziellen Bibliothekar konfrontiert wird, der sorgsam darauf achtet, nichts zu lesen, und zwar nicht etwa aus Ignoranz, sondern im Gegenteil, um seine Bücher besser zu kennen:
»Weißt du, das war mir nun beinah wirklich zuviel! Aber er hat es mir, wie er meine Bestürzung gesehen hat, auseinandergesetzt. Es ist das Geheimnis aller guten Bibliothekare, dass sie von der ihnen anvertrauten Literatur niemals mehr als die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis lesen. ›Wer sich auf den Inhalt einlässt, ist als Bibliothekar verloren!‹ hat er mich belehrt. ›Er wird niemals einen Überblick gewinnen!‹
Ich frage ihn atemlos: ›Sie lesen also niemals eines von den Büchern?‹
›Nie; mit Ausnahme der Kataloge.‹
›Aber Sie sind doch Doktor?‹
›Gewiß. Sogar Universitätsdozent; Privatdozent für Bibliothekswesen. Die Bibliothekswissenschaft ist eine Wissenschaft auch allein und für sich‹, erklärte er. ›Wieviele Systeme, glauben Sie, Herr General‹, frägt er, ›gibt es, nach denen man Bücher aufstellt, konserviert, ihre Titel ordnet, die Druckfehler und falschen Angaben auf ihren Titelseiten richtig stellt uns so weiter?‹«[5]
Musils Bibliothekar hütet sich streng davor, sich in die Bücher zu vertiefen, doch steht er ihnen keineswegs, wie vielleicht anzunehmen wäre, gleichgültig und schon gar nicht feindselig gegenüber. Es ist ganz im Gegenteil seine Liebe zu den Büchern – allerdings zu allen Büchern –, die ihn veranlasst, sich wohlweislich an der Peripherie aufzuhalten, aus Angst, ein allzu ausgeprägtes Interesse für eines unter ihnen könnte die Vernachlässigung der anderen zur Folge haben.
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Wenn Musils Bibliothekar mir weise erscheint, dann durch diese Vorstellung des »Überblicks«, und ich bin versucht, seine Ansichten über die Bibliotheken auf die gesamte Kultur anzuwenden: Wer seine Nase in die Bücher steckt, ist für die Kultur verloren, sogar für das Lesen. Denn bei der immensen Anzahl aller existierenden Werke muss notgedrungen eine Entscheidung getroffen werden zwischen dieser Gesamtsicht und dem einzelnen Buch, und jedes Lesen bedeutet angesichts des schwierigen und zeitraubenden Versuchs, das Ganze in den Griff zu bekommen, einen Energieverlust.
Die Weisheit dieser Haltung liegt in erster Linie in der Bedeutung, die sie dem Gedanken der Gesamtheit einräumt, weil sie damit zu verstehen gibt, dass die wahre Bildung so umfassend wie möglich sein muss und sich nicht auf das Anhäufen von Einzelwissen beschränken darf. Und darüber hinaus führt die Suche nach dieser Ganzheit zu einem anderen Blick auf das einzelne Buch, denn man lässt dabei dessen Individualität hinter sich, um sich für die Beziehungen zu interessieren, die es zu den anderen unterhält.
Und genau diese Beziehungen muss der wahre Leser zu erfassen suchen, wie es Musils Bibliothekar richtig verstanden hat. So interessiert er sich wie viele seiner Berufskollegen weniger für die Bücher als für die Bücher über die Bücher:
»… ich sage noch etwas von etwas wie von Eisenbahnfahrplänen, die es gestatten müssen, zwischen den Gedanken jede beliebige Verbindung und jeden