Pierre Bayard

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat


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Es gibt nichts Originelleres, als daß man den Schriftstellern eine Art von Verpflichtung auferlegt, in jeder Hinsicht originell zu sein.«[15]

      Einer der Schlüssel zur Lektüre des Textes ist in der Formel zu finden, die sich antithetisch zu Frances Vorgehen verhält, »zu ignorieren, was man weiß«. Die Bildung trägt die Bedrohung in sich, in den Büchern der anderen stecken zu bleiben, was unbedingt zu vermeiden ist, will man selbst schöpferisch sein. Kurz, France, der keinen persönlichen Weg zu finden wusste, ist geradezu ein Paradebeispiel für die schädlichen Folgen des Lesens, und man versteht, dass Valéry nicht nur sorgsam darauf achtet, kein einziges Mal aus seinem Werk zu zitieren oder es auch nur zu erwähnen, sondern sogar seinen Namen zu nennen, als könnte schon das Aussprechen ihn in einen identischen Prozess des Selbstverlusts verwickeln.

      ∗

      Das Problem bei diesen »Würdigungen« Prousts oder Anatole Frances ist, dass sie Misstrauen streuen auf alle anderen Texte, die Valéry Schriftstellern gewidmet hat, weil man sich unweigerlich fragt, ob er sie gelesen oder wenigstens kurz überflogen hat. Sobald Valéry zugibt, dass er wenig liest, sich aber mit seiner Meinung trotzdem nicht zurückzuhalten gedenkt, wird auch die kleinste, noch so harmlose seiner kritischen Bemerkungen suspekt.

      Nach einer solchen Einleitung dürfte man eigentlich erwarten, dass diese Komplimente eine Spur von Rechtfertigung erfahren und Valéry – warum nicht? – sein Verhältnis zu Bergson etwas näher ausführen würde. Diese Hoffnung aber gibt der Leser rasch auf, denn die Formel, die den nächsten Abschnitt einleitet, ist zu denen zu zählen, die man gewöhnlich für Kommentare zu nicht gelesenen Texten reserviert:

      Es steht im Falle Valéry ganz zu befürchten, dass die Weigerung, auf Bergsons Philosophie einzugehen, keine Floskel ist, sondern wörtlich genommen werden muss. Und die Fortsetzung des Textes wirkt nicht gerade beruhigend, was Valérys Kenntnis seines Denkens betrifft:

      Dass sich Bergson mit der Zeit und dem Gedächtnis auseinandergesetzt hat – welcher Philosoph hat das nicht? –, sagt noch nicht viel aus über sein Werk oder dessen Originalität. Lässt man die wenigen Zeilen über die Gegenüberstellung von Bergson und Kant außer Acht, bleibt der Text so vage, dass er sich zwar wunderbar auf Bergson anwenden lässt, genauso jedoch auf viele andere Autoren, die von diesen konventionellen hagiografischen Floskeln ebenso zutreffend beschrieben würden.

      Offensichtlich kann Valéry es nicht lassen, mit einer Gehässigkeit zu schließen, schafft es doch die freundliche Wendung »der letzte große Name in der Geschichte der europäischen Intelligenz« nur mit Mühe, die Härte der vorangehenden abzumildern, mit der Bergson charmant in ein »vergangenes Zeitalter« abgeschoben wird. Wenn man sie liest und Valérys Leidenschaft für die Bücher kennt, muss man annehmen, dass er die überholte Stellung des Philosophen innerhalb der Ideengeschichte vor allem zu Protokoll nimmt, um seine Werke nicht aufschlagen zu müssen.

      ∗

      Diese Praxis der Kritik ohne Autor und Text hat nichts Absurdes an sich. Sie beruht bei Valéry auf einem fundierten Begriff von Literatur, dessen einer Hauptgedanke sagt, dass nicht nur der Autor, sondern auch das Werk überflüssig ist.

      Das Unbehagen, das vom Werk ausgeht, muss als Erstes mit seinem allgemeinen Literaturbegriff in Verbindung gebracht werden, der mit dem zusammenhängt, was er in der Nachfolge von Aristoteles und anderer Poetik nennt. Tatsächlich geht es Valéry vor allem darum, die Hauptgesetze der Literatur aufzuzeigen. Von da aus wird eigentlich jeder Text suspekt, da er zwar als punktuelles Beispiel der Erarbeitung dieser Poetik dienen kann, gleichzeitig aber auch genau das ist, was beiseitegelassen werden muss, wenn man sich einen Überblick verschaffen will.

      So könnte man William Marx folgen, wenn er feststellt, dass sich Valéry weniger für ein bestimmtes Werk als für seine »Idee« interessiert:

      Die Chancen, Zugang zu diesem »weniger als das Werk«, zu seiner Idee, zu bekommen, stehen besser, wenn man ihm nicht allzu nahe kommt, da man sonst Gefahr läuft, sich in seiner Besonderheit zu verlieren. Somit hat der Kritiker vielleicht die besten Erfolgsaussichten, das zu entdecken, was ihn interessiert, wenn er die Augen schließt vor dem Werk und sich, um über es hinauszugehen, vorstellt, was es sein könnte: das, was es nicht ist, sondern was es mit anderen gemeinsam hat. Demzufolge bedeutet jede allzu aufmerksame, wenn nicht sogar jede Lektüre ein Hindernis, den Gegenstand in seiner ganzen Tiefe zu erfassen.

      Mit dieser Poetik der Distanz erfährt eine unserer gebräuchlichsten Beziehungsarten zum Buch durch Valéry eine rationale Begründung: das Querlesen. Tatsächlich ist es recht selten, dass wir ein Buch in der Hand haben, das wir von der ersten bis zur letzten Zeile lesen, falls eine solche Praxis überhaupt möglich ist. Meistens tun wir mit den Büchern das, was Valéry für seine Proust-Lektüre geltend macht: Wir lesen es quer.

      Dieser Begriff des Querlesens kann auf mindestens zwei Arten verstanden werden. Im ersten Fall ist das Vorgehen linear. Der Leser beginnt den Text am Anfang, geht dann dazu über, Zeilen oder Seiten zu überspringen, und nähert sich langsam dem Ende, ob er es nun erreicht oder nicht. Im zweiten Fall ist das Vorgehen zirkulär, da der Leser nicht für eine geordnete Lektüre