Pierre Bayard

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat


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allein zu lassen, obgleich das eigentlich verboten ist, weil es nur von den Bibliothekaren benützt werden darf. Da war ich dann also wirklich im Allerheiligsten der Bibliothek. Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingetreten zu sein; rings herum nichts wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und den Tischen nichts wie Kataloge und Bibliographien, so der ganze Succus des Wissens, und nirgends ein vernünftiges Buch zum Lesen, sondern nur Bücher über Bücher… «[6]

      Verbindungen und Anschlüsse, das muss der gebildete Mensch zu begreifen suchen, und nicht das eine oder andere Buch im Besonderen, so wie ein Verantwortlicher des Schienenverkehrs auf die Zugverbindungen achten muss, das heißt auf die Kreuzungspunkte und Anschlüsse, und nicht auf den Inhalt des einen oder anderen Waggons. Mit dem Bild des Schädels wird diese Theorie, nach der im Bereich der Kultur die Beziehungen unter den Gedanken wichtiger sind als die Gedanken selbst, noch weiter verdeutlicht.

      Natürlich ist die Behauptung des Bibliothekars, kein einziges Buch zu lesen, mit Vorsicht zu genießen, denn schließlich interessiert er sich sehr genau für die Bücher über die Bücher, für die Kataloge. Diese aber haben einen ganz besonderen Status und sind eigentlich nicht viel mehr als Listen. Doch sie haben das Verdienst, diese Beziehung zwischen den Büchern visuell zu veranschaulichen, für die jeder empfänglich sein muss, der, gerade weil er sie leidenschaftlich liebt, in der Lage sein möchte, gleichzeitig eine große Anzahl von ihnen in den Griff zu bekommen.

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      Dieser Gedanke des »Überblicks«, der dem Vorgehen des Bibliothekars zugrunde liegt, ist von großer praktischer Bedeutung, denn seine intuitive Erkenntnis ist es, die einigen Privilegierten die Mittel in die Hand gibt, sich relativ unbeschadet aus der Affäre zu ziehen, wenn sie in bestimmten Situationen auf frischer Tat der Unwissenheit überführt werden könnten.

      Die Gebildeten wissen es – vor allem aber wissen es die Ungebildeten zu ihrem Unglück nicht –, dass Bildung in erster Linie eine Sache der Orientierung ist. Gebildet zu sein bedeutet nicht, das eine oder andere Buch gelesen zu haben, es bedeutet, sich in der Ganzheit aller Bücher zurechtzufinden, also als Erstes zu wissen, dass sie eine Ganzheit bilden, und dann in der Lage zu sein, jedes einzelne Element im Zusammenhang mit den anderen einzuordnen. Auf das Innere kommt es hier weniger an als auf das Äußere, oder, wenn man will, das Innen eines Buches ist sein Außen, da es bei jedem Buch auf die Bücher neben ihm ankommt.

      Daher ist es für einen gebildeten Menschen unwichtig, ob er ein bestimmtes Buch gelesen hat oder nicht, da er, auch ohne über seinen Inhalt genau unterrichtet zu sein, oft fähig ist, seine Stellung zu erfassen, das heißt die Art und Weise, wie es sich im Verhältnis zu den andern situiert. Diese Unterscheidung zwischen Inhalt eines Buches und seiner Stellung ist ganz entscheidend, ist sie es doch, die es jemandem, den Bildung nicht schreckt, erlaubt, sich problemlos zu jedem beliebigen Thema zu äußern.

      Mehr noch, wie wir weiter unten bei der Analyse der Machtverhältnisse sehen werden, die beim Sprechen über unsere Lektüre im Spiel sind, sehe ich mich durchaus in der Lage, ohne jede Scham über mein Nichtlesen von Joyce zu reden. Tatsächlich besteht meine geistige Bibliothek eines Intellektuellen wie jede andere aus Löchern und Lücken, was aber im Grunde keine Bedeutung hat, da sie so ausreichend bestückt ist, dass eine bestimmte leere Stelle nicht auffällt, geht doch jeder Diskurs ohnehin sehr schnell von einem Buch zum nächsten über.

      Die meisten Gespräche über ein Buch haben, auch wenn es anders scheinen mag, weniger mit ihm selbst als mit einem weit größeren Ganzen zu tun, mit der Gesamtheit aller wichtigen Bücher, auf der eine bestimmte Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt beruht. Diese Gesamtheit werde ich von nun an kollektive Bibliothek nennen, und auf sie kommt es in Wirklichkeit an, denn ihre Beherrschung ist in einem Gespräch über Bücher gefragt. Diese Beherrschung aber ist eine Beherrschung der Beziehungen und nicht eines bestimmten isolierten Elements und verträgt sich wunderbar mit dem Unwissen über einen bestimmten Teil des Ganzen.

      Somit hört ein Buch, sobald es in unser Wahrnehmungsfeld tritt, auf, unbekannt zu sein, und nichts über es zu wissen bedeutet absolut kein Hindernis, von ihm zu träumen oder zu reden. Noch bevor ein gebildeter, neugieriger Mensch ein Buch aufgeschlagen hat, kann schon sein Titel oder ein kurzer Blick auf den Umschlag eine Reihe von Bildern und Eindrücken bei ihm hervorrufen, die nur darauf warten, in eine erste Meinung verwandelt zu werden, die noch befördert wird durch die Vorstellung, welche die Allgemeinbildung über das Ganze der Bücher bietet. So kann eine noch so flüchtige Begegnung mit einem von ihnen, selbst wenn er es nie aufschlagen wird, für den Nichtleser der Anfang einer authentischen persönlichen Annäherung sein – und gibt es nicht unter Umständen unbekannte Bücher, die diesen Status bereits bei der ersten Begegnung verlieren?

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      Das Besondere am Nichtlesen von Musils Bibliothekar besteht im Grunde darin, dass seine Haltung nicht passiv, sondern aktiv ist. Zahlreiche gebildete Menschen sind Nichtleser, und umgekehrt sind zahlreiche Nichtleser gebildete Menschen, da das Nichtlesen nicht einfach die Abwesenheit des Lesens bedeutet. Es stellt eine aktive Tätigkeit dar, die darin besteht, sich in Bezug auf die Unermesslichkeit der Bücher zu organisieren, um sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen. In diesem Sinne verdient das Nichtlesen verteidigt und gar unterrichtet zu werden.

      Nun gleicht nichts, zumindest für ein ungeübtes Auge, dem Ausbleiben des Lesens mehr als das Nichtlesen, und niemand scheint jemandem, der nicht liest, näher als jemand, der nicht liest. Beobachtet man aber das Verhalten der beiden Personen einem Buch gegenüber, so gibt es über die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Haltungen und Motive, die ihnen zugrunde liegen, keine Zweifel.

      Im ersten Fall interessiert sich die nicht lesende Person nicht für das Buch, wobei hier »Buch« gleichzeitig als Inhalt und als Stellung zu verstehen ist. Die Beziehungen, die es zu den andern unterhält, sind ihm genauso gleichgültig wie sein Gegenstand, und die Angst, er könnte, wenn er sich für ein einziges interessiert, den Eindruck erwecken, die andern gering zu schätzen, ist ihm unbekannt.

      Im zweiten Fall verzichtet die nicht lesende Person nur deshalb auf die Lektüre, um wie Musils Bibliothekar das Wesentliche des Buches zu erfassen, nämlich seine Stellung in Bezug zu den anderen. Damit bekundet sie nicht etwa mangelndes Interesse am Buch, ganz im Gegenteil. Gerade das Wissen um die enge Verknüpfung zwischen Inhalt und Stellung veranlasst sie zu diesem Vorgehen, das von einer Weisheit zeugt, die er so manchem Leser voraus hat, und das bei genauerem Nachdenken vielleicht sogar von mehr Respekt dem Buch gegenüber zeugt.