Pierre Bayard

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat


Скачать книгу

sich allerdings kaum auf Proust anwenden, dessen Werk sich nur schwer zusammenfassen lässt. Im zweiten Teil seines Textes zeigt sich Valéry schon etwas besser inspiriert.

      Dieser ist Proust gewidmet, um den man in einer Hommage wohl nicht ganz herumkommt. Nachdem er ihn zu allen anderen Schriftstellern in Beziehung gesetzt hat, von denen er zuvor sprach, hebt Valéry nun doch dessen Besonderheit hervor, ausgehend von der gewiss Proust’schen Vorstellung, dass sein Werk sich auszeichnet durch den »Überfluß an Verknüpfungen, die das geringste Bild so ungezwungen in der eigenen Substanz des Autors fand«. Dieser Fingerzeig auf die Proust’sche Art, die unendlich kleinen Verbindungen jedes Bildes in Szene zu setzen, stellt einen doppelten Vorteil dar. Als Erstes ist es nicht nötig, Proust gelesen zu haben, um dafür empfänglich zu sein, und um dies festzustellen, kann man ihn aufschlagen, auf welcher Seite man will. Darüber hinaus ist dieses Vorgehen strategisch angemessen, da es darauf hinausläuft, den Akt des Herauspflückens selbst und damit also den Verzicht auf das Lesen zu legitimieren.

      Tatsächlich kann Valéry sehr geschickt erklären, wie die Anziehungskraft von Prousts Werk mit seiner außerordentlichen Eigenschaft zusammenhängt, dass man ihn auf jeder beliebigen Seite aufschlagen kann:

      ∗

      Wenn die Würdigung Prousts Valéry dazu dient, seine Vorstellung vom Lesen darzulegen, so wird ihm ein anderer bedeutender Zeitgenosse, Anatole France, die Gelegenheit bieten, sein wahres Gesicht zu zeigen und diesmal nicht nur auf den Autor, sondern auch gleich noch auf den Text zu verzichten.

      Als Valéry im Jahr 1927 als Nachfolger von Anatole France in die Académie Française aufgenommen wird und dadurch in die Verlegenheit kommt, dessen Nachruf zu verfassen, tut er alles, um der Aufgabe, die er sich in der Einleitung seiner Rede selbst stellt, nicht nachzukommen:

      Wollte Anatole France im Gedächtnis oder in einem Text weiterleben, so hätte er einen anderen finden müssen als Valéry, der sich während seines ganzen Vortrags die größte Mühe gibt, ihm nicht zu huldigen. Tatsächlich ist Valérys Rede nichts anderes als eine nicht abreißende Serie von Gemeinheiten gegen seinen Vorgänger, für den er wiederholt das Prinzip des zweifelhaften Kompliments in Anwendung bringt:

      Einer solchen Dichte an unterschwelligen Beleidigungen auf so wenigen Zeilen begegnet man nicht jeden Tag, wird doch das Werk Anatole Frances nacheinander als »angenehm«, »freundlich«, »erfrischend«, »gemessen« und »einfach« bezeichnet, was in der Literaturkritik schwerlich als Kompliment aufgefasst werden kann. Und darüber gefällt es – ein letzter Fußtritt – möglicherweise allen. Man kann es genießen, ohne zu grübeln, da die Ideen nur »gestreift« werden, eine Einschätzung, die Valéry auch gleich weiter ausführt:

      »Was ist auch reizvoller als die köstliche Illusion der Klarheit, die uns ein Gefühl müheloser Bereicherung, sorgenlosen Genießens, achtlosen Verständnisses, kostenlosen Schauspiels schenkt?

      Stellt Valérys Huldigung auf Anatole France nichts als eine Anhäufung von Gemeinheiten dar, so stimmt der Text durch seine Vagheit umso nachdenklicher, als ob Valéry auf keinen Fall den Eindruck erwecken möchte, er habe Anatole France gelesen, da dies seiner Meinung über ihn widersprochen hätte. Nicht nur nennt er keinen einzigen Titel seines Werks, der Text wird zu keinem Moment auch nur ein bisschen explizit, und er macht nicht die leiseste Anspielung auf eines seiner Bücher.

      Dass Valéry unbedingt den Eindruck zu vermeiden sucht, er könnte Anatole France gelesen haben, mag vielleicht auch mit dem Hauptvorwurf zusammenhängen, den er ihm macht, nämlich zu viel zu lesen. France, den er als unermüdlichen Leser bezeichnet – was bei Valéry einer Beschimpfung gleichkommt –, ist jemand, der sich, ganz anders als sein Nachfolger an der Académie, in den Büchern verirrt hat:

      Dieser Leseexzess hat bei France zum Verlust seiner Originalität geführt. Denn genau das ist aus Sicht Valérys die Hauptgefahr, die das Lesen für einen Schriftsteller darstellt, weil es ihn in Abhängigkeit zu anderen bringt:

      »Meine Herren, das gelehrte, feinsinnige Mitglied Ihrer Vereinigung hat der großen Zahl gegenüber kein Unbehagen verspürt. Sein Geist war widerstandsfähiger. Um sich vor solchem Widerwillen und vor dem Schwindel, den die Statistik erregt, zu bewahren, hatte er nicht nötig, nur sehr wenig zu lesen. Fern von allem Gefühl der Bedrücktheit, regte ihn dieser Reichtum an, dem er soviel Belehrung und glückliche Wirkungen für Art und Bedarf seiner Kunst entnahm.