Prägnanz dieser Aneignung erschüttert jedoch spürbar den Unterschied zwischen Lesen und Nichtlesen oder sogar den Begriff des Lesens selbst. In welche Kategorie soll man all jene einordnen, die eine bestimmte Zeit, gar Stunden mit einem Buch verbracht haben, ohne es vollständig zu lesen? Soll man, wenn sie darüber sprechen müssen, sagen, dass sie über ein Buch sprechen, das sie nicht gelesen haben? Eine vergleichbare Problematik stellt sich für all jene, die wie Musils Bibliothekar an der Peripherie des Buches stehen bleiben. Man kann sich fragen, wer von beiden der bessere Leser ist, derjenige, der ein Werk gründlich liest, ohne es einordnen zu können, oder derjenige, der sich in keines vertieft, aber über alle Bescheid weiß.
Wie man sieht, ist es nicht einfach – und das Ganze wird sich noch mehr zuspitzen –, genau zu bestimmen, was das Nichtlesen und mithin was das Lesen ist. Es scheint, dass wir uns gewöhnlich, jedenfalls was die Bücher betrifft, die uns innerhalb einer vorgegebenen Kultur begleiten, in einem Zwischenbereich bewegen, sodass man in den meisten Fällen gar nicht so leicht sagen kann, ob man sie gelesen hat.
∗
Genauso wie Musil regt auch Valéry dazu an, in Begriffen der kollektiven Bibliothek statt des einzelnen Buches zu denken. Für einen echten Leser, der die Literatur durchdringen möchte, zählt nicht das einzelne Buch, sondern die Ganzheit aller andern, und wenn man seine gesamte Aufmerksamkeit einem bestimmten unter ihnen schenkt, läuft man Gefahr, das Ganze aus dem Blick zu verlieren und damit das, was in jedem Buch an dieser umfassenderen Organisation teilhat, die uns erlaubt, es von Grund auf zu verstehen.
Doch Valéry schlägt vor, noch einen Schritt weiter zu gehen, wenn er uns auffordert, jedem Buch mit dieser Haltung zu begegnen und stets diesen Überblick anzustreben, der im Interesse einer Gesamtsicht auf alle Bücher liegt. Die Suche nach dieser Perspektive bedingt, dass man darauf achtet, sich nicht in einem einzelnen Abschnitt zu verlieren und also eine vernünftige Distanz zum Buch zu halten, die allein es ermöglicht, seine wahre Bedeutung einzuschätzen.
1 PAUL VALÉRY, Œuvres I, QB +, Paris 1957, S. 1479
2 EB +
3 UB und EB ++
4 PAUL VALÉRY, Werke, Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, Band 3, Zur Literatur, 1989, S. 421
5 Ibid.
6 Ibid.
7 Ibid.
8 Ibid., S. 424, Hervorhebungen vom Autor
9 Ibid., S. 426
10 Ibid., S. 353f.
11 Ibid., S. 362
12 Ibid., S. 362f.
13 Ibid., S. 370
14 Ibid., S. 372
15 Ibid., S. 373
16 Ibid., S. 151
17 Ibid.
18 Ibid., S. 152
19 Ibid.
20 Ibid., S. 154f.
21 WILLIAM MARX, Naissance de la critique moderne, UB +, Arras 2002, S. 25
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