Donata Elschenbroich

Weltwissen der Siebenjährigen


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      Menschen sind Wesen, die nicht nur geboren werden, sondern noch zur Welt kommen müssen. Frühgeboren zu sein ist eines unserer wesentlichen Gattungsmerkmale. Um uns in der Welt schrittweise einquartieren zu können, sind wir darauf angewiesen, dass man sie uns zeigt. Die menschlichen Nachkommen wiederum sind die einzigen jungen Lebewesen, die auf die Dinge zeigen. Eine Aufforderung, eine Bitte, ein schon vor dem Spracherwerb begonnener Dialog: Der Säugling, das noch nicht ich-sagende Subjekt, bittet, fordert: Erklär mir. Antworte! Der Finger, die Hand des Kindes – es kann den Kopf schon heben, drehen –, sie wählt aus. In der Umwelt, in die das Kind hinausgetreten ist, in diesem aktuellen Ausschnitt von Welt überhaupt, wählt es zielgerichtet: den erstaunlichen Gegenstand, da! das Fahrrad, der Föhn: da! Das Kind staunt. Und verwandelt sein Staunen in eine Geste, in ein Fragezeichen: ein geborener Lerner. Das Kind inszeniert den Dialog: Der Blick wandert vom Phänomen zum Erwachsenen, dem weltsicheren älteren Gattungsgenossen. Mit instinktivem Vertrauen in dessen Macht, sein Weltwissen und seine Gutartigkeit, fordert es: Gib ab davon! Teile mit mir. Du bist jetzt dran! Und der Erwachsene, er kann nicht anders. Die Mutter, biologische Mäzenin über neun Monate, setzt ihr Mäzenat als ein elementar pädagogisches fort. Nicht nur die Mutter, wir alle sind geborene Lehrer. Wir können uns nicht verweigern. Intuitiv verfallen wir im Dialog mit Säuglingen in den Singsang einer bis zu einer Oktave angehobenen Kopfstimme, wir dehnen und wiederholen die Silben und bieten dem Säugling damit die bestmögliche Propädeutik für den Spracherwerb. Wir bringen automatisch unser Gesicht im richtigen Winkel und im richtigen Abstand für die Augen der Neugeborenen so in Stellung, dass sie die Botschaften des menschlichen Gesichts entziffern lernen. Und wir springen an auf ihre gestischen Fragen, den deutenden Finger, den zwischen dem fixierten Gegenstand und unseren Augen wandernden Blick. Wir sind dran! Wie die Hirten auf dem Felde machen wir uns auf den Weg, wir Erwachsenen im Umgang mit den Neugeborenen, und tun, wie uns gesagt wurde. Den Einjährigen benennen wir die Dinge, wir kommentieren ihre Hantierungen wie Sportreporter, obwohl es von ihrem Wortschatz her noch keinen Sinn macht. Für das Gespräch mit den Nachkommen sind wir programmiert.1 Nur in Verwöhnungssystemen können wir als Gattung gedeihen.

      Den Kopf heben, Aufhorchen – das sind weltbildende Gesten. Das Kind hebt den Kopf und sieht die Welt aufgehen. Das Kind bildet dabei einen Horizont, die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Wirklichen und dem Möglichen. Terrain gewinnen, den Horizont voranschieben, unterwegs zu einem Zuwachs an Welt, unablässig: Das heißt lernen. Der Mensch, sagt Sloterdijk, ist ein »Mehrwelttier« und die Welt-Aneignung eine »Fortsetzung der Geburt mit anderen Mitteln«.2

      Die Welt ist der Inbegriff von allem, womit man Erfahrungen macht, wenn man in ihr ist. Dieses progressive Welteinwohnen beschäftigt uns lebenslang, aber in den frühen Stadien des Lebens ist es besonders abenteuerlich, verheißungsvoll, pionierhaft. In den frühen Jahren ist genetisch alles darauf gerichtet, dass das biologisch nicht angepasste menschliche Junge, ausgestattet mit verschwenderisch reichhaltigem Potenzial, die Signale aufnehmen kann, die in Borneo, Boston oder Bremen Sinn machen für seine jeweilige Existenz. In diesen frühen Jahren ist es stärker noch, deutlicher noch als später angewiesen auf den Anderen, den Informations-Bereiter. Für das Entschlüsseln des Gesichtsausdrucks und das Decodieren der Sprache ist viel Gehirnkapazität vorgesehen. Das menschliche Gehirn lernt gern von anderen Menschen. Nicht die biologische Mutter muss es sein, da hat die Natur gut vorgesorgt. Jeder andere Mensch mit einem Vorsprung an Weltwissen kann mitspielen.

      Sigmund Freud nannte es die »strahlende Intelligenz« der Kinder im Vorschulalter: ihre großzügige Ausstattung mit Talenten, ihre unerschrockene Erfinderlust, ihre Begeisterung fürs Lernen. Kennen Sie ein Krabbelkind, das null Bock aufs Krabbelnlernen hatte? Ehrliche Lerner. Sie mogeln nicht, sie lassen sich nicht einsagen…

      »Wüchsen die Kinder fort wie sie sich andeuten, wir hätten lauter Genies«, bemerkt Goethe in Dichtung und Wahrheit im Hinblick auf das verschwenderische Entwicklungspotenzial von Kindern in frühen Jahren. Der »Horizont« ist durchlässig. Die Fülle des Vorhandenen spricht zum Kind von der Macht des Möglichen. Weltbewusstsein ist immer auch Überschussbewusstsein. Wer angefangen hat, in der Welt zu sein, ist unterwegs zu einem Zuwachs an Welt.

      Die Eltern

      Was sollte ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können, wissen?

      Wer fragt so? Eltern. Auch für Eltern sind Kinder eine Botschaft des Möglichen.

      Das ist nicht nur Verheißung, das ist beunruhigend. Hat dieses Kind, was es braucht? Wenn ein kleiner Abstandsschritt zum Alltag mit einem Kind möglich ist, fragen sich das alle Eltern, irgendwann nach den ersten Jahren. Anfangs war man noch damit beschäftigt, das Kind kennenzulernen, seinen Rhythmus, sein Temperament. Und das Kind war vollauf beschäftigt mit seinem mitgebrachten Programm, seinen frühen ontogenetischen Entwicklungsaufgaben. Jede, kaum bewältigt, löste schon die nächste Aufgabe aus: Fixieren, Greifen, Sitzen, Beißen, Laufen…

      Aber dann, je weiter das Kind in der Sprache vordringt, weitet sich der Horizont atemberaubend schnell, und die Möglichkeiten und Alternativen der Anregung vervielfältigen sich. Was wir nicht tun, ist das eine Unterlassung, ist das Vernachlässigung? Was wir nicht anregen, wird das brachliegen? Dabei sein, im Weg sein, umgehen mit allem, was zur Hand war, so war das Kind unterwegs zur Welt, es hatte Stoff, ganz offensichtlich. Aber reicht das für die Zukunft?

      Keine Mutter, kein Vater, die nicht insgeheim mehr von sich erwarten. Mehr wovon? Das Gleiche wie in der eigenen Kindheit kann es nicht sein. Wie machen es andere Eltern? Was sagen die Fachleute? Was braucht dieses Kind? Auf einmal beginnt die Zeit knapp zu werden. In den ersten Monaten und Jahren konnte es den Eltern oft nicht schnell genug gehen – bis der Nachtschlaf wieder ungestörter wurde, bis das Kind von sich aus gern einmal in einem anderen Haus übernachtete. Nun läuft die Zeit davon. In Gedanken überschlägt man die restliche Kindheit: wieviel Jahre noch, bevor die Schule beginnt? Sollen das zwei, drei Jahre Spielparadies sein, soll man das Kind schützen vor Ansprüchen, es »in Ruhe« lassen? Aber die Zweitsprache, die jemand in dieser Familie spricht – wenn sie dem Kind je zu einer zweiten Muttersprache werden soll, dann müsste man sie jetzt einführen. Von »Entwicklungsfenstern« hat man gelesen, von optimalen Zeitpunkten für den Erwerb kognitiver Grundfähigkeiten, den mathematischen, sprachlichen, musikalischen. Wird sich mit jeder Kerze auf der Geburtstagstorte ein Entwicklungsfenster schließen? Macht man es sich zu leicht, was hat man übersehen? Die vierjährige Cousine in England unterschreibt schon auf der Postkarte mit ihrem Namen und einem Gruß…

      Eltern, nicht anders als Tiere bei der Aufzucht, sondieren das Terrain, in das sie die Jungen schicken. Sie umkreisen es in Gedanken, konzentrisch, wie der Vogel das Nest umflattert. Wo sind heutzutage die nahrhaften Weideplätze, wann ist der ungefährlichste Zeitpunkt für den nächsten Entwicklungsschritt nach draußen? Auf Probegängen erkunden Eltern diesen nächsten Weltausschnitt, den der russische Entwicklungspsychologe Lev Vygotsky die zone of proximal development nannte.

      Zugleich wissen wir, dass, anders als Spatzen oder Kängurubabys, der Nesthocker Mensch bei seinem Aufwachsen keinem verlässlichen genetischen Programm folgen kann. Zur Überlebensfähigkeit und zum Glück des Menschen gehört seine Entscheidungsfähigkeit, die Freiheit zu wählen und Nein zu sagen. Nur die eigenen Fragen, nur die eigenen Lösungen des Kindes machen es zu einem Zeitgenossen, zu einem menschlichen Weltwissenden. Ausgesetzt auf der Datenautobahn geht das Kind ein. Wissen ist immer persönliches und soziales, subjektgebundenes Wissen.

      Diese gattungsspezifische, diese zeitgenössische Entwicklungsaufgabe begriffen zu haben, heißt alles für das Kind Geplante mit einem Vorbehalt versehen. Ein pädagogisches Zögern, die Skepsis gegenüber Belehrung und Verschulung, ein leise ironisches Verhältnis zur Pädagogik überhaupt, das ist ein Erbe des 20. Jahrhunderts, des »Jahrhunderts des Kindes«. Die Traumstraßen und Irrwege des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach idealen Kindheiten haben uns auch die Erkenntnis hinterlassen, dass Kinder nicht belehrbar sind. Sie können nur selber