Donata Elschenbroich

Weltwissen der Siebenjährigen


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– in diese Richtung gehen die Entwürfe noch selten. Und doch ist die Berufsgruppe in Bewegung und sucht: wie den neuen Bildungsauftrag verstehen? Die jungen Eltern – selbst noch aufgewachsen im leistungskritischen Klima der 80er Jahre – haben in ihrer Ausbildung und am Arbeitsplatz den Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft längst erfahren. Die rapiden Umwälzungen der Alltagsgewohnheiten beschäftigen die Erzieher genauso wie die Eltern ihrer Kindergartenkinder. Man hat auch gehört, dass in internationalen Vergleichsstudien das deutsche Bildungswesen schwach abschneidet. Ein neues Kindheitsbild, ein neues Selbstbild der Erzieher ist im Entstehen: »Lernen zu lernen« – wie kann das aussehen in den viertausend Stunden?

      Die deutsche akademische Elementarpädagogik kommt den 400.000 Erzieherinnen bei ihrer Suche nicht zur Hilfe. Mit einer Hand voll Lehrstühle führt die Pädagogik der frühen Kindheit in Deutschland ein Schattendasein. Selbst wenn man nicht alles Heil von akademischer Pädagogik erwartet: Es gibt in diesem Feld kaum Dissertationen, Kongresse, keine Habilitationen, in den Bibliotheken fehlen internationale Zeitschriften. Man kann deshalb in Deutschland auf breiter Ebene bisher nur wenig lernen von guter Praxis in anderen Ländern. Von den Early Excellence Centers in England etwa, von der Reggio-Pädagogik in Italien, von den Projekten zum emergent curriculum (Curriculumforschung für den Elementarbereich) in den USA, von der sorgfältigen Kleinkindpädagogik in Japan wissen nur wenige. Die deutsche elementarpädagogische Szene ist abgeschnitten von solchen Anregungen, sie kennt mehr oder weniger nur sich selbst.

      Weltwissen: Die Recherche

      Was sollte heute ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren wissen, können, erfahren haben? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?

      Drei Jahre lang, zwischen 1996 und 1999, haben wir das Menschen allen Alters, aller Schichten und Bildungshintergründe gefragt. Eltern, Großeltern, Erzieher, Jugendliche. Hirnforscher, Entwicklungspsychologen, Medizinsoziologen und Grundschuldidaktiker. Den Direktor eines Altenheims, einen Erzbischof, Mütter in der Müttergenesungskur, arbeitslose Väter, Unternehmer, den General der Schweizer Armee, den Verkäufer im Bahnhofskiosk, die Verkäuferin im Media-Markt, eine türkische Analphabetin, die Studentin der Betriebswirtschaft – welche Wünsche haben sie, Fachleute aller Art, an das Weltwissen der heute Siebenjährigen?

      (Warum Siebenjährige? Eine magische Zahl. Ein erster Lebensabschnitt in vielen Kulturen. In Deutschland markiert er eine Schwelle vom beiläufigen zum formalisierten Lernen; dieser Lebensabschnitt mündet ins erste Schuljahr.)

      Eine solche Recherche muss vielstimmig sein. Alle hatten dazu etwas zu sagen, und alle waren sie Autorität. (Nur ein einziger Experte hat das Gespräch verweigert, ein Zukunftsforscher. Ob er als Vater von drei Kindern oder als Zukunftsforscher befragt werden sollte? Beides zugleich, wie vorgeschlagen, war für ihn undenkbar. Er blieb bei seiner Ablehnung.)

      In über hundertfünfzig Gesprächen wurde der Horizont der Siebenjährigen umwandert. Gespräche über Weltwissen, das man den Nachkommen wünscht, sind, wie alle Erziehungsgespräche, immer auch Selbstgespräche. Die Frage war prismatisch, sie hat ein Spektrum von Lebenserfahrungen und Berufserfahrungen aufgebrochen.

      In Kindern begegnen Erwachsene sich selbst. Sie interessieren sich für sie mit den Fragen, die ihnen ihr Erwachsenenleben gerade aufgibt. Schillers Thema (Über naive und sentimentalische Dichtung) ist die »Freiwilligkeit« von Existenz, und fasziniert sieht er sie verkörpert in Kindern. Dass wir Kindern, sagt er, ähnlich wie Mineralien, Tieren und Landschaften, »eine Art von Liebe und rührender Achtung« entgegenbringen, sei die glückliche Empfindung bei der Anschauung eines »freiwilligen Daseins«. Für Schiller sind die Kinder Boten einer Existenz nicht »von Gnaden«. Sie verheißen Existenz nach eigenen Gesetzen, »das Bestehen der Dinge durch sich selbst«: Einheit mit sich selbst, bürgerliche Selbstgewissheit, »Menschenwürde«. Er sagt auch: Es ist nicht die Kindheit, sondern »es ist die durch sie dargestellte Idee«, die wir lieben.4

      Das Kind als Erlöser – das ist kein neues Motiv. Kindermund tut im Sprichwort Wahrheit kund, und dass Kinder dem Himmelreich nahe stehen, war ein Topos durch die Jahrhunderte. Aber Kindheit als Modell für die Emanzipation des Menschen, das war bei Schiller ein historisch neues Konzept, das das 20. Jahrhundert, als das »Jahrhundert des Kindes«, noch in vielen Variationen beschäftigen sollte. Vorläufig zum letzten Mal in den 70er Jahren, als eine neue Variante leidenschaftlicher Subjektivierung anstand, die Emanzipation aus beengenden Familienstrukturen. Nun nahm man Kinder wahr wie Liebhaber in der italienischen Oper, ihre leidenschaftliche Eifersucht, ihren Trennungsschmerz. Sexualität, Beziehungen, ambivalente Affekte – für die Dramatik der Beziehungen zwischen den Generationen ist der alltägliche Blick der Erwachsenen auf die Kinder seitdem sensibel geworden. Wie wird aus einem egozentrischen Triebbündel ein soziales Wesen?

      Heute scheint Thema der Erwachsenen vor allem das unablässige Neuanfangen, Umlernen-müssen zu sein, ihre ständige kognitive Anspannung in einer innovationsbeschleunigten Umwelt, und so interessiert man sich neuerdings für Kinder vor allem als Erkenntniswesen, für ihre Lernstrategien, für ihre kognitiven Leistungen. Autodidakt sein, »Selbstbildungsprozesse in Gang setzen«, sein eigener Lehrer werden, »Problemlösen« – wie geht das, wie machen es uns die Anfänger auf dieser Welt vor?

      Kinder zeigen uns die Dinge, als seien sie gerade erst entstanden und die Empfindungen frisch vom Erzeuger. In Japan, einer Gesellschaft, die die spontanen Lebensäußerungen der Erwachsenen in das Korsett einer rigiden sozialen Grammatik spannt, genießt man die Kinder im vorschulischen Alter ganz besonders. Man ist nicht nur entzückt von ihrer Anmut, man verehrt nachgerade die elementaren Wutausbrüche von Kindern: Taifune, Erdbeben… toben so nicht manchmal die Götter?

      Die Natur belohnt uns für die Mühen des Kinderaufziehens. Noch einmal dürfen wir es mit den Neuankömmlingen erleben: Herzklopfen angesichts ihrer ersten durch Zeichen vermittelten Botschaft. Die Beklommenheit beim Anblick des zitternden Spinnenbeins, der erhabenen Bewegungen des Tiefseefisches, der rätselhaften Kräfte eines Magnetfelds…

      Wie geheimnislos ist uns erwachsenen Altlesern das Lesenkönnen geworden, manchmal zu einem geradezu lästigen Reflex. Dagegen der Triumph des ersten Lesens: aus Zeichen, zu einem Text zusammengesetzt, steigt die Welt auf! Nicht nur wir zeigen. Auch die Kinder zeigen uns die Dinge frisch. Die Dinge und unseren menschlichen Blick auf Dinge und Phänomene. »Wenn ich ans Erfinden gehe, bin ich wieder ein Kind«, soll der Erfinder Otto Wankel gesagt haben.

      Unsere Gesprächspartner sind gern auf die einfache Frage nach dem »Weltwissen« angesprungen. Auch ihnen hat das Umwandern der elementaren Bildungserlebnisse wieder eine Welt eröffnet. Die Überlegungen zum wissenswerten Weltwissen sind raumbildend und raumerweiternd zugleich. Die Komplexität der auf das Kind andrängenden Reize und Informationen zu vereinfachen, probehalber, das ist immer zugleich auch Selbstfürsorge, Selbstvergewisserung. Ein Projekt »in bester Absicht« verband die Gesprächspartner. Vortasten in eine gute Zukunft als stillschweigendes Versprechen: Das Allerbeste wollen wir euch ins Gepäck stecken!

      Die Gespräche wurden meist in Gang gesetzt mit einem ersten Blick in ein Panorama des Weltwissens von Siebenjährigen. Ich hatte versuchshalber einige Beispiele für »Weltwissen« – lebenspraktisches, soziales, motorisches, kognitives, ästhetisches – zusammengestellt, meine eigene erste Wunschliste.

      … Ein siebenjähriges Kind sollte vier Ämter im Haushalt ausführen können (etwa: Treppe kehren, Bett beziehen, Wäsche aufhängen, Handtuch bügeln). Es sollte ein Geschenk verpacken können. Zwei Kochrezepte umsetzen können, für sich und für einen Freund, für sich selbst und für drei Freunde. Es sollte einmal ein Baby gewickelt oder dabei geholfen haben. Es sollte gefragt haben können, wie Leben entsteht. Es sollte eine Vorstellung davon haben, was bei einer Erkältung in seinem Körper vorgeht, und eine Wunde versorgen können. Das Kind sollte wissen, wie man drei verschiedene Tiere füttert, und Blumen gießen können. Ein siebenjähriges Kind sollte schon einmal auf einem Friedhof gewesen sein. Es sollte wissen, was Blindenschrift ist, und vielleicht drei Wörter