Flüche, Schimpfwörter kennen (in zwei Sprachen). Eine Ahnung von Stilebenen, Sprachkonventionen haben, wo sagt man was
einen Nagel einschlagen, eine Schraube eindrehen, eine Batterie auswechseln können
eine Nachricht am Telefon aufnehmen, behalten und ausrichten können
sich bücken, wenn einem anderen etwas runtergefallen ist
ausreden lassen. Wissen, was das ist. Warten können: die Warteschlange
wissen, dass nicht alle Wünsche gleich in Erfüllung gehen
gewandert sein: den Unterschied zwischen laufen, gehen und wandern kennen. Die Erfahrung der Strecke, der Durststrecke. Ein »Ziel vor Augen«
einige Blattformen kennen, wissen, was man in der Natur essen kann und was nicht
die Natur als Freund und als Feind erlebt haben. Als empfindlich, beschützenswürdig. Und als stärker, gefährlich
über Regeln verhandelt haben. Eine Regel verändert haben. Mit dem Begriff »Ausnahme« etwas verbinden
Mengen in Maßeinheiten erlebt haben. Z.B. drei Liter = drei Milchflaschen voll… Einen Raum mit dem eigenen Körper ausgemessen haben
Reflexion: was kann ich, was kann der Computer? Erste Konzepte von Intelligenz, menschliche, künstliche »Intelligenzen«
Schein-und-Sein-Experimente. Hinter dem »Nichts« im Glas verbirgt sich etwas
Erfahrungen mit einem Experiment (geregelte Versuchsanordnung) und mit Üben (systematisches Wiederholen von Abläufen)
die Farbe der eigenen Augen kennen, ein Selbstportrait gemalt haben
den eigenen Pulsschlag gefühlt haben, und den von Freund und Tier
einem Meister, einer Expertin, einem Könner begegnet sein. Neben ihm oder ihr gearbeitet haben (»Mentor«)
Stolz empfunden haben, »ein Kind« zu sein. Nur Kind.
Zu viel? Was möchten Sie von der Liste streichen?
Auch wenn viele Gesprächspartner von dieser Fülle überwältigt waren, fiel es ihnen zu ihrer Verblüffung schwer zu entscheiden, welche dieser Erfahrungen, Kenntnisse im Einzelnen überflüssig, verzichtbar wären. Gelegentlich kam dann der Vorschlag, zusammenzutragen, was den Siebenjährigen erspart bleiben sollte, was in einem Bildungskanon für die ersten Jahre fehlen kann, was auf später verschoben werden sollte. Zeitökonomie, das Konzept »Zeitverschwendung« wurden genannt. Die Kindheit soll die Zeit der nach vorn offenen Zeit sein! Als weiteres Wissen, mit dem man Kinder in ihren frühen Jahren nicht belasten sollte, wurde von einigen Gesprächspartnern die Abtreibung genannt. Phantasien über »unerwünschte« Kinder will man ihnen ersparen. Und in der Vorschulzeit, meinten die meisten Gesprächspartner, sollte es das Privileg der Kinder sein, nicht zwischen »Du« und »Sie« unterscheiden zu müssen.
Kanon-Bildung
Mit der zweiten Liste, nach dreijähriger Recherche, sind wir mitten im Problem: Was wäre heute ein Kanon für Bildungserfahrungen in den frühen Jahren? Brauchen wir einen solchen Kanon?
Die erste Liste war eine Geste mit leichter Hand, unfertig, ein Anstoß. Exemplarisch, eine Skizze, sagten wir den Gesprächspartnern. Stehen wir mit der zweiten Liste nun mit einem Fuß auf dem Terrain empirischer Sozialforschung? Das Netz wurde weit ausgeworfen. Hier spricht nun nicht mehr eine kleine Gruppe von Eltern, ein kleine Gruppe von Erziehern auf einem Workshop. Jetzt ist die Zahl der Beteiligten angewachsen auf die Besetzung eines mittleren Vortragssaals. Hat die zweite, die erweiterte Liste deshalb mehr Gewicht für einen Kanon unverzichtbarer Bildungsgelegenheiten? Hätte sie es umso mehr, wenn immer weitere Gesprächspartner in die Recherche einbezogen würden? Gegen Ende unserer Recherche kam gelegentlich von unseren Gesprächspartnern der Vorschlag, die Liste ins Internet zu stellen. Noch weiter zu sammeln … weltweit…
Ich neige stattdessen dazu, die Frage immer wieder zurückzuholen, im Gespräch immer wieder neu anzusetzen, mit nur wenigen Beispielen für Weltwissen, und dann dem Lauf zu folgen, den die Gesprächspartner einschlagen. Das eigenaktive, das seine Erkenntnis selbst konstruierende Kind ist das neue Leitbild für Lernprozesse in frühen Jahren – aber Erwachsene sind darin nicht anders als Kinder: Wir wollen selbst denken, selbst die Leerstellen füllen, selbst den Kanon der frühen Bildungsjahre neu erfinden können. Lernen ist im weitesten Sinn ästhetisches Lernen – von Filmen erinnert man vor allem die Bilder, die man selbst gemacht hat. Interessant sind für uns vor allem die Gedanken und die Absichten, die wir selbst entwickeln.
Die zweite, die erweiterte Liste, ist in diesem Sinn nicht »vollständiger« als die erste, und eine durch Tausende von Internet-Rückmeldungen weiter verlängerte Zusammenstellung von Bildungsbeispielen wäre keine »zuverlässigere« Grundlage für einen Kanon.
Wie kann ein Kanon für die frühen Jahre aussehen?
Wir verlassen kurz die Bildungsdiskussion im Übergang zur Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Wir schauen uns einen klassischen Kanon an, entstanden im 17. Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg, ein bis weit ins folgende Jahrhundert, bis in die Goethezeit beliebtes Bilderbuch und Schulbuch für den systematischen Aufbau von Weltbildern und Lebenskenntnis in den Kindern der lesenden Stände: der Orbis Sensualium Pictus von Johann Amos Comenius.
Ein Kanon des Weltwissens: Der Orbis Sensualium Pictus von Comenius
Dem Bedürfnis nach Ordnung in der Welt, nach einem beruhigten Horizont für die Anschauung und die Fragen von Kindern hat Johann Amos Comenius eine klassische Form gegeben.8 Als der berühmte, weitgereiste Gelehrte 1658 gegen Ende seines Lebens sein »Buch der Bücher« für Kinder verfasste, führte er vermutlich einen Auftrag aus seiner eigenen Kindheit aus, einer Kindheit, die gleichermaßen geprägt war vom wüsten Chaos des Dreißigjährigen Krieges und der weltvertrauenden Bildung einer protestantischen böhmischen Sekte.
1592 in Ostmähren geboren, verlor Comenius mit zehn Jahren den Vater, mit elf die Mutter und zwei seiner Schwestern. Eine Tante in Südmähren nahm das Waisenkind auf. Über seine ersten Erfahrungen mit dem Lernen in der Schule einer protestantischen Sekte, der »Brüderunität«, gibt es keine Zeugnisse. Aber man weiß, dass diese Sekten Kindern mit ungewöhnlichem Respekt vor ihrem »eigenen Weg zu Gott« begegneten. Vielleicht waren das in seinem Aufwachsen die einzigen Jahre seines Lebens ohne Angst und Unordnung. Sie enden gewaltsam, als der Ort während des Dreißigjährigen Krieges überfallen und niedergebrannt wird. Zurück im Geburtsort, arbeitet er in der Mühle seines Vormunds. Drei Jahre bäuerliche, handwerkliche Tätigkeiten, eine andere Schule, deren Einfluss lebenslang auf Comenius wirkt. Das Tun mit den Händen, die praktische Intelligenz der Menschen niederen Standes, ihre Entfaltungsmöglichkeiten, die nicht zu ihrem Recht kommen, hat Comenius später, als anerkannter Gelehrter, als Berater von Fürsten, als Bischof der böhmischen Brüdergemeinde nie vergessen.
Im Alter von 16 Jahren darf Comenius endlich wieder eine Schule besuchen: drei Jahre Lateinunterricht und religiöse Unterweisung. Diese gelehrte Schule, keine Hilfe bei seiner Suche nach Welterkenntnis, ist für ihn eine schmerzliche Enttäuschung. Die Erinnerung verfolgt ihn lebenslang. »Von vielen Tausenden bin ich auch einer, ein armes Menschenkind, dem der liebliche Lebensfrühling, die blühenden Jugendjahre mit scholastischen Flausen verdorben wurden…« Das will er anderen ersparen: »Nur eines bleibt und eins ist möglich, daß wir die Hilfe, die wir unseren Nachkommen leisten können, wirklich leisten. Haben wir nämlich gezeigt, in welche Irrtümer uns unsere Lehrer hineingestürzt haben, so müssen wir nun zeigen, auf welchem Weg man diese Irrtümer vermeiden kann.«9
Die Energie für seinen lebenslangen Versuch des Ordnens, des enzyklopädischen Umkreisens der Welt auf der Suche nach einer Weltharmonie,