Donata Elschenbroich

Weltwissen der Siebenjährigen


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sich das Gemüte … in die unkörperliche Betrachtung der Dinge erschwinget« (Vorrede), kommt die Sprache dazu, beim Vorlesen, dann die Schrift, und schließlich das Lateinische. Man gebe Kindern das wertvolle Buch »nach eigenem Belieben« zur Hand! empfiehlt Comenius, der Großherzige, der weitergeben, teilen möchte. Für sich allein sollen die Kinder sich »belustigen« können, der Orbis soll ihr erstes Bilderbuch sein (Vorrede, III, I). Aber auch ausmalen sollen sie die Bilder dürfen, »so sie Lust dazu haben, so sie keine haben, muß man ihnen Lust dazu machen« (Vorrede, IV). Die älteren Kinder kehren zu diesem Buch der Bücher zurück, um in der Muttersprache die Gegenstände und »Lebens-Verrichtungen« (Berufe) zu bezeichnen. Einige Jahre später kehren sie erneut zu dem Werk zurück, um die Bezeichnungen nun im Lateinischen zu lernen. So ist der Orbis auch ein erstes Beispiel für ein »Spiralcurriculum«.

      Der Orbis Pictus ist mehr als eine Aneinanderreihung von wissenswerten Fakten. Für Comenius war er nichts weniger als »die Welt« selbst, Kanon, Welt-Ordnung für Kinder. Dieser Kanon existiert schon vor dem Orbis, meint Comenius, so wie es auch die Welt immer schon gibt. Man muss diesem bereits vorhandenen Kanon nur Gestalt geben, ihn zu Wort und Bild bringen, in dieser barocken Verschränkung von Bild und Schrift.

      Der Orbis Pictus ist, verglichen mit anderen Schriften von Comenius, eher nüchtern, rationalistisch. Keine Visionen, keine Utopie, keine ungelösten Fragen. Er will die Welt beruhigen, er will der Welt für Kinder das Labyrinthische nehmen, ihre Komplexität reduzieren. Da ist er dann auch nicht immer auf der Höhe des Zeitwissens – wenn er z.B. erstaunlicherweise am ptolemäischen Weltbild festhält. Comenius will nicht stimulieren, es geht ihm nicht um mehr und noch mehr. Nicht der horror vacui ist sein Motiv, eher schon der horrorpleni, die Angst vor der Überfülle. Dieser Wunsch nach Reduktion macht ihn auch heute aktuell. Es geht Comenius nicht primär um mehr Wissen, es geht um Integration, um durch Wissen gestiftete Gemeinschaft. Heute ist das die Frage nach dem Zusammenhang der einzelnen Informationen. Das spricht der Orbis Pictus allerdings nicht an. Was die Welt zusammenhält, bleibt unausgesprochen, bleibt geglaubt.

      Der Orbis Pictus beschreibt eine begrenzte, aber keine heile Welt. Das comenianische System ist nicht »geschlossen«. Lebenslang versteht sich Comenius als ein Lernender. »Ich danke meinem Gott, daß er mich mein ganzes Leben hindurch einen Mann der Sehnsucht hat sein lassen.«11

      In seinen späten Schriften in Holland, in der Allgemeinen Beratung, an der er bis zu seinem Tod arbeitete, hat Comenius nicht nur Kindheit und Jugend, sondern das gesamte Leben des Menschen als Lernen, als eine Schule verstanden. Der alte Comenius spricht sogar von vorgeburtlichem Lernen, von »Anfängen der Weisheit im Mutterschoß«.

      »Nicht aufzugeben, ein Leben lang, war das Schwerste«, schreibt Heydorn über Comenius. »Für den heutigen Leser ist die comenianische Gewissheit oft schwer begreiflich. Inmitten von Unruhe, am Rande der Vernichtung ist eine unendliche Ruhe, als wäre alles schon längst zurückgenommen. Das Erwartete ist schon gegenwärtig.«12

      Was lässt Comenius so verwandt, so zeitgenössisch erscheinen, wenn wir heute das Weltwissen der Siebenjährigen umwandern? Ist es seine Stimme des unbedingten guten Willens, die durch die Jahrhunderte spricht? Nachgeborene sind empfindlich gegenüber pädagogischer Besserwisserei. Aber die Haltung von Comenius, sein ehrfürchtiger und sein sachlicher Umgang mit den Phänomenen der Natur und des Sozialen hat in späteren Epochen immer wieder gefallen. Über 250 Ausgaben des Orbis Pictus hat es über die Jahrhunderte gegeben. Goethe erinnerte sich gern an dieses Buch seiner Kindheit.

      Es ist ästhetische Feinheit, es ist auch Eleganz im Orbis Pictus. Den Kupferstecher für die Vignetten hat Comenius sorgfältig ausgewählt. Sigmund von Birken, der frühbarocke Dichter, hat den lateinischen Text von Comenius in ein präzises und anmutiges Deutsch gebracht. Mit wenigen Worten entstehen Situationen des Lebens, aus der alltäglichen Umgebung wie aus einer ferneren Welt. Auch den Islam – »den mahometischen Glauben« – führt Comenius den Kindern vor. Nicht als exotische Welt, sondern tolerant, sachlich.

      Weitere Themen: Das Schwimmen! Der Honig! Das Jüngste Gericht! Jede Miniatur ist für sich ein kleiner Orbis, ein Rundgang um Bild und Text. Der Ton ist erzählend, freundlich, heute würde man sagen: partnerschaftlich. Er setzt beim Kind Interesse und Verständnis voraus, aber er bemüht sich um Einfachheit, um Nähe zum Kind. Ein sanfter Pädagoge, das Kind soll nicht unnötig belastet werden. »Der aber zuwege bringt, daß von den Würzgärtlein der Weißheit die Schrecksachen hinweg bleiben, der hat etwas Großes geleistet« (Vorrede).

      Bei abstrakteren Begriffen – wie »die Gerechtigkeit«, »die Müdigkeit« – werden Kinder in die emblematische Darstellungsform eingeführt: Hinter dem Sichtbaren erscheint ein anderer Sinn, die Wahrnehmung auf mehreren Ebenen wird geübt, sie werden angehalten, unter die Oberfläche zu schauen…

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       Doppelseite aus dem Orbis Pictus

      Insgesamt sind alle Szenen knapp gehalten, manchmal nüchtern, nie pedantisch. Comenius ist nicht beschaulich, keine heile Welt malt er aus. Marter und Todesstrafen werden vorgestellt und das Jüngste Gericht. Sie gehören für ihn ebenso in den Horizont der Kinder wie der Buchladen und die Mondfinsternis.

      Ein Orbis im 21. Jahrhundert

      Ob die Phantasie von Kindern vom Dreißigjährigen Krieg oder von der Gewalt im Fernsehen belagert wird, ist vielleicht kein prinzipieller Unterschied. Und ob ein Kind nach Pest und Krieg ohne Vater aufwächst oder nach einer Scheidung, auch kein wesentlicher. Die Erschütterungen des Wissens – durch das kopernikanische Weltbild oder durch beschleunigten technologischen Wandel –, auch das rückt Comenius nahe über die Jahrhunderte.

      Anders als im comenianischen Kanon wird man allerdings heute versuchen, die Kinder als Handelnde zu denken, die Realien auch als Sozialien vorzustellen. Das Auto transportiert nicht nur Menschen und Gegenstände, es ist auch ein umstrittenes Fortbewegungsmittel. Die Realien werden auch als Emotionalien behandelt: ein Sessel ist nicht nur ein Möbelstück, es kann das Lieblingsmöbel des Vaters sein, geerbt von der Urgroßmutter. Und Wissen gilt, anders als im Verständnis von Comenius, nicht als endgültig. Es ist immer revidierbar.

      Darüber, über die Jahrhunderte hinweg, mit Comenius in ein Gespräch zu kommen, wäre schön. Denn heute wird ein Kanon nicht von einem Autor allein entworfen werden, und sei er noch so gebildet und großherzig. Sondern im Gespräch, als Kombination von Elementen aus Lebenserfahrung, Fachwissen, Berufserfahrungen. Ein Kanon wird offen sein, mehr Spirale als geschlossener Kreis, in seinem Gestus wird der Vorbehalt der Älteren erkennbar sein, die erfahren haben, dass die Gegenwart von heute nicht ihre Zukunft von gestern ist. Ein Kanon wird sich verstehen als Angebot, als Möglichkeit. Die Weltkarte des Wissens wird weiße Flecken zeigen, das eigene Nicht-Wissen thematisieren, offene Fragen enthalten, die weitere Fragen auslösen.

      Das Unabgeschlossene eines Bildungskanons heute, die Spiralbewegung bei der Umkreisung des kindlichen Bildungshorizonts, das Weltwissen-Projekt als ein offenes Projekt konnte gegen Ende unserer Recherche von den Gesprächspartnern bereits leichter akzeptiert werden als drei Jahre zuvor. Der Charakter der Vorläufigkeit, der Zwang zur Neuschöpfung der Welt, in immer wieder neuen Versionen, wurde in dieser Zeit ja auch sonst ständig erfahren.

      Vielleicht wird man demnächst in weniger schwerfälliger Form solche Bildungswelten erfinden. Das lineare Aneinanderreihen: »ein Siebenjähriger sollte…«, »…und sollte außerdem auch noch« (Soll-Pädagogik nannte es eine Gesprächspartnerin) ging uns in vielen Gesprächen gegen den Strich. Vielleicht werden wir in einigen Jahren geschickter im Umgang mit Bildern sein; vielleicht werden wir Bilder montieren und mit diskontinuierlicheren Darstellungsformen dem vielschichtigen Charakter des Weltwissens, das ein Kind in den ersten Lebensjahren ausbildet, gerechter werden.

      Aber die tapfere Melancholie, die gebildete Einfalt von Comenius sollte auch heute die Grundhaltung eines Kanon sein. Das Bedürfnis von Comenius und das seiner Leser bleibt