Beschenktwerdens wie etwa in der Kindheit von Goethe. »Wer empfing, der möchte geben« – diese Selbstverpflichtung eines Erwachsenen im dankbaren Rückblick an eine auf Händen getragene Kindheit konnte kein Motiv von Comenius sein. Belagerung und Verzweiflung blieben wiederkehrende Erfahrungen in seinem frühen Mannesalter. 1622 muss er vor katholischen Truppen aus seinem böhmischen Heimatort Fulnek fliehen. Wieder ist aller Halt verloren: Die Stadt wird niedergebrannt, seine Frau und seine beiden Söhne sterben an den Folgen der Pest. Und, trostlos auch, seine gesamte Bibliothek wird vernichtet.
»Nur eines bleibt und eines ist möglich, daß wir die Hilfe, die wir unseren Nachkommen leisten können, wirklich leisten.« Der Wunsch nach Wiedergutmachung, nach Selbst-Heilung, stellvertretend an Kindern, bestimmt das Lebenswerk von Comenius. »Wartung der Geister«, nannte er es. Aus welchen Bildern und Erfahrungen nahm er die Kraft für die Vision eines selbstbestimmten, freudigen Lernens? Vielleicht aus den wenigen glücklichen Jahren in der Schule der böhmischen Brüderunität. Die Brüder stützten sich in ihrer Achtung des Kindes auf das Evangelium. Die Taufe von Kindern in frühen Jahren verstanden sie als eine nur vorläufige Einführung in die Gemeinde; im Laufe des Erwachsenwerdens sollte sie durch eine bewusste, selbstständige Entscheidung abgelöst werden.
Comenius verstand die Selbsterziehung und die Bildung von Kindern als eine dem Menschen gestellte Lebensaufgabe. Das hat er unerschütterlich gegen alle Demoralisierung während des Dreißigjährigen Krieges behauptet. Auf allen Stationen seines Lebens, an Universitäten, Höfen, in Holland, Deutschland, Italien, suchte er nach Ordnungsprinzipien, nach einem Halt in der Wissens-Explosion seiner Zeit. Comenius war ein gelehrter Mann, nicht nur mit der theologischen und philosophischen Tradition vertraut, sondern auch mit den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit. Wie mit der Fülle des neuen Wissens umgehen? Wie dieses Wissen nutzen, ohne sich, enzyklopädisch, an die »Dinge zu verlieren«?
Das Labyrinth, eine barocke Metapher für den Zustand der Welt, erscheint auch als Labyrinth der Informationen. Durch scholastisches Pauken kann aber die verstörende Komplexität des Lebens während der Glaubenskriege nicht bezwungen werden, so kann keine Ordnung entstehen. Die »Geistesfolter« (Große Didaktik, 1985, 100), »Kopfmarterung« (Orbis Pictus, Vorrede), als die Comenius die Lateinschule erlebt hatte – und Folter war für einen Menschen seiner Zeit etwas sehr Konkretes–, schien ihm ein Beispiel für gottferne Gewalt am Menschen. Die »vernünftige Kreatur« Mensch könne so nicht behandelt werden, durch Zwang zum Gehorsam werde der Mensch zum Nicht-Mensch. »Gewalt sei ferne den Dingen« ist das Motto der Pansophie, seines Spätwerks.
Wissen war für Comenius zuallererst persönliches, in primären Beziehungen verankertes Wissen. Die Mütter hat er geschätzt, ihren Bildungsauftrag anerkannt. Nicht »Präzeptores und Prediger« sollen die ersten Lehrer der Kinder sein, sondern, so schreibt er ausdrücklich, »worin die Kinder geübet« werden, das könnten die Mütter am besten. In seiner Mutterschul (1626) beschreibt Comenius die Erziehungsaufgaben für die ersten Jahre.
Die Mutterschul ist gedacht für alle Kinder und Mütter aller Schichten, und es ist nicht wenig, was da aufgebaut werden soll. Das beginnt mit einer Grundhaltung des Kindes,
Temperantia, womit nicht nur die Befolgung der Zehn Gebote gemeint ist, sondern auch, was man heute Sozialverhalten nennen würde. Darüber hinaus soll die Mutter dem Kind Grundkenntnisse der »Künste«, der Artes, vermitteln. Als da sind:
Physicis: Unterschied zwischen Regen, Schnee, Unterschiede der Gewächse, der Tiere
Optica: Farben unterscheiden können
Astronomie: Sonne und Mond und einige Sterne kennen
Geographie: seinen Heimatort kennen und elementare geographische Bezeichnungen wie Feld, Berg, Fluss
Chronologie: Das Kind sollte Stunden, Tage, Wochen und Jahreszeiten unterscheiden können
Historia: sich an etwas drei oder vier Jahre Zurückliegendes erinnern können
Ökonomie–, Zugehörigkeit zum »Haus« beschreiben können (Verwandtschaftsbeziehungen, soziale Abhängigkeiten, wer gehört zum Gesinde und wer nicht)
Politica: Das Kind sollte eine Vorstellung von der Rolle eines Bürgermeisters oder Vogts haben, sich unter einer Bürgerversammlung etwas vorstellen können
Dialectice: den Unterschied zwischen Frage und Antwort kennen, auf eine Frage zielgerichtet antworten können (»nicht dass einer vom Knoblauch, der andere von Zwiebeln rede«)
Arithmetica: bis zwanzig zählen können, elementare Mengenlehre, elementare mathematische Operationen ausführen können
Geometrie: Erste Kenntnis der Maße sollten vorhanden sein
Musica: Jedes Kind sollte einige Lieder auswendig singen können
Poesia: einige Verse auswendig können.
Und zuletzt noch eine Ergänzung von Comenius, für die er offensichtlich keine lateinische Kategorie vorfand:
Handwerkliche Geschicklichkeit: etwas schneiden, zubinden, schaben, zusammenfalten können.
Comenius hatte eine hohe Meinung von Kindern – das alles traute er ihnen zu, das forderte er für sie, für die Kinder aller Schichten. In Gesprächen zwischen Mutter und Kind würde diese Bildung einfließen. Respektvoll sollte es dabei zugehen, das Gespräch begleitet sein von der »Höflichkeit der Gebärden«.
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Mutterschul, nachdem Comenius durch Deutschland, England, Schweden, Ungarn, Holland gereist war, berühmt durch über hundert Veröffentlichungen, nach weiteren Schicksalsschlägen, nach Exil und Vertreibung und vielfältiger Anschauung von Unrecht auf der Welt, stellt der 56jährige 1658 dieser Erfahrung eine Welt-Ordnung, ein gemeinschaftsstiftendes Welt-Wissen entgegen: den Orbis Sensualium Pictus.
Es ist ein Kanon des Wissenswerten, der Realien, aber auch der Formen des menschlichen Zusammenlebens. Ein »kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache« (Vorrede), nichts weniger. Ein enzyklopädischer Versuch, ähnlich wie Leibniz versucht hat, den möglichen Umfang des Wissens – in seinem Versuch sind es die Bücher – systematisch auf einen Kern zu reduzieren. (Leibniz schwebte ein Raum vor, eine Bibliothek, die in drei oder vier Räumen ein zweites Gedächtnis für den Gelehrten werden könnte. Dort wäre alles versammelt, dort würde er alles wiederfinden, was ihm entfallen war.)
Um den Raum des Wissens zu ordnen, holt Comenius Kinder zu Hilfe, er verdichtet das Weltwissen stellvertretend für sie. Die Aufmerksamkeit will er wecken, ihre Beobachtungsgabe schärfen. Nicht nur mit dem Kopf soll gelernt werden, Gemüt und Hände sind beteiligt. Wissen, Tun und Sprechen, dies zusammen sei das »Salz des Lebens«.
Anschaulich vor allem soll das sein, es soll berühren. »Die Menschen müssen so viel wie möglich ihre Weisheit nicht aus Büchern schöpfen, sondern aus Himmel und Erde, aus Eichen und Buchen, sie müssen die Dinge selbst kennen und erforschen und nicht nur fremde Beobachtungen und Zeugnisse darüber… alles soll wo immer möglich den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar dem Gehör, was riechbar dem Geruch… wenn ich nur einmal Zucker gekostet, einmal ein Kamel gesehen, einmal den Gesang einer Nachtigall gehört habe… so haftet das alles fest in meinem Gedächtnis und kann mir nicht wieder entfallen.«10
Schule solle aus Bildern bestehen, hatte Comenius geschrieben. Die 150 Bilder im Orbis Pictus sind keine dem Inhalt untergeordneten Hilfsmittel, sie sind mehr als bloße Illustration. Die Bilder stellen die Dinge und Zusammenhänge vor, gleichwertig zum Text in deutscher und lateinischer Sprache. Bilder und Text steigern sich gegenseitig.
Alles für alle, auf alle erdenkliche Weise! Der Orbis Pictus soll das Buch schlechthin sein, ein Vademecum für die Kleinen und die Größeren, für die Jungen und Mädchen, für Kinder aller Schichten. Omnia omnes omnina! Alle können das Wesentliche von allem verstehen, auch Kinder auf ihre Weise, davon ist Comenius überzeugt.
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