Wissens erfahren, und sie müssen zweifeln an ihrem generationalen Wissensvorsprung. »Er sah, daß sein Kind ihm in vielem voraus war. Und er war der Zeit, der Gegenwart, dafür dankbar«, heißt es 1980 bei Peter Handke in der »Kindergeschichte«.3
Zwanzig Jahre später bemühen sich in einem Vortragssaal fünf Erwachsene vergeblich, einen Video-Beamer in Gang zu setzen. Hilfesuchend: »Ist hier vielleicht irgendwo ein Kind?«
Wie wird man solche Erkenntnisse integrieren bei der Unterstützung im Aufbau von Welt-Wissen? Im Kind die Kraft zu bestärken, sein eigener Lehrer zu sein, darum geht es. Wieviel Überlegung, Zeit, Energie fordert das jungen Erwachsenen ab, die selbst mit ihren Neuanfängen, ihrem eigenen Verlernen und Lernen zu tun haben!
Schleusen der Kultur
Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können, wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?
So fragen auch ganze Kulturen. Zumindest beantworten Gesellschaften die Frage faktisch durch das, was sie Kindern in ihrem ersten Lebensabschnitt ermöglichen oder verweigern. Die Organisation von Kindheit, die Gestaltung dieser Lebensphase eines Teils der Bevölkerung, ist eine gesellschaftliche Daueraufgabe. Durch welche Schleusen schicken Gesellschaften ihre Kinder weltwärts?
Kinder sind ein Schlüssel zum Verständnis eines Landes, nicht nur der Sitten einer Gesellschaft, sondern auch ihrer kollektiven Intelligenz, ihrer Zukunftsfähigkeit. Was wird investiert in die frühen Jahre jeder Generation – wieviel Fürsorge, in Form von Zeit, Phantasie, Geld sind sie den Erwachsenen wert? Welche Freiheiten gestatten sie den Heranwachsenden, bei welchen Gelegenheiten dürfen sie Nein sagen?
Die psychologischen Wissenschaften vom Kind und die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung haben bisher noch nicht viel zur Selbsterkenntnis im internationalen Vergleich beigetragen. Die Indikatoren sind noch zu grob. Man erhebt zwar weltweit die Quoten der Säuglingssterblichkeit, und man weiß etwas über die Familienformen, in denen Kinder zwischen Kalkutta, Kalifornien und Kenia aufwachsen. Aber wie zum Beispiel teilen sich in verschiedenen Gesellschaften die Generationen den Raum? Den Raum innerhalb der Wohnungen, den Raum in den Städten? Wieviel Raum wird Kindern in öffentlichen Diskursen, in den Medien, zugestanden – sind Kinder vor allem ein Frauenthema, etwas für die Wochenendbeilage, oder ein Thema für die erste Seite, für die gute Sendezeit? Mit welchen kulturellen Phantasien werden die ersten Lebensjahre der Kinder besetzt: Dominieren Leistungserwartungen oder eher regressive Phantasien über eine spannungsfreie Oase, ein »Kinderparadies«? Wieviel Zeit, Mütter-Zeit, Beziehungs-Zeit, wird für Kinder aufgewendet, und was ist sie einer Gesellschaft wert, wird diese Zeit geachtet, wird sie vergütet? In welchem Ansehen stehen diejenigen, die sich beruflich mit Kindern beschäftigen – gilt ihr Beruf als attraktiv oder eher als »zweite Wahl«?
Für solche Filter in den Kulturen des Aufwachsens fehlen uns vergleichende Untersuchungen. Eine Zukunftsaufgabe.
Bildungsauftrag
Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Jahren erfahren haben, können, wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?
So fragt auch die Berufsgruppe der Erzieher in Kindergärten. So umfassend fragt sie noch nicht lange, erst seitdem eine neue Bildungsdiskussion allmählich mehr Aufmerksamkeit auch auf die frühen Jahre lenkt.
Seit 1996 hat jedes in Deutschland lebende Kind ein Recht auf einen Kindergartenplatz. Ab dem Alter von spätestens vier Jahren gilt nun jedes in Deutschland lebende Kind als »Kindergartenkind«.
Rund 4.000 wache Stunden verbringen Kinder heute vor dem Schuleintritt in einem Kindergarten. In diesen Stunden sollen sie ausdrücklich mehr als nur »betreut« werden: Das Kindergartengesetz von 1996 formuliert einen Bildungsauftrag an alle Kindergärten. Damit ist die historische Trennung in verschiedene Typen von Kindergärten – Betreuung von Kindern, während die Mütter in der Fabrik oder auf dem Feld arbeiten einerseits, Anregung und Bildung der Kinder in ausgesuchten Kindergärten gegen höhere Gebühr oder über unbezahlte Mitarbeit von Müttern andererseits –, diese Trennung, die immer eine Klassentrennung war, überwunden, zumindest vom Anspruch her. Seit das Kindergartengesetz in Kraft getreten ist, gibt es keinen Trägerverband, keine Fortbildungsakademie, die diesem neuen »Bildungsanspruch an die frühen Jahre« nicht jährlich mehrere besorgte Tagungen widmet.
Erzieher sind in Deutschland keine verwöhnte Berufsgruppe. In den vergangenen 30 Jahren haben sich die Beschäftigten in diesem Berufsfeld vervierfacht. Aber am Status der Erzieherinnen – zu 95% sind es Frauen – hat sich nichts geändert, sie verdienen bestenfalls zwei Drittel des Gehalts von Grundschullehrerinnen, und ihre Ausbildung an Fachschulen, fern von Kunst und Wissenschaft, macht es ihnen unmöglich, in einem anderen europäischen Land zu arbeiten. Deutschland bildet, was den Status der Erzieherausbildung angeht, mit Österreich das Schlusslicht der europäischen Länder. In den Beruf der Kindergärtnerin lenkt man junge Frauen, die keine guten Erfahrungen mit dem Lernen gemacht haben. Die Bildungsexpansion, die gestiegenen Quoten von Abiturientinnen haben dem Berufsfeld viele selbstbewusste, unternehmungslustige junge Frauen entzogen.
Kindheit war im 20. Jahrhundert einige Male ein Hoffnungsthema, es mobilisierte Visionen und Energien weit über die unmittelbar mit Kindern Beschäftigten, wie Eltern und Erzieher, hinaus. Der letzte große historische »Kindheitsaufbruch« in diesem Sinne waren die Jahre nach 1968.
Viele der heute in Politik und Medien Erfolgreichen haben in den 70er Jahren in Kinderläden gearbeitet. Es gab damals diesen fast intuitiven Konsens: Um den autoritären Charakter, wie ihn Nationalsozialismus und 50er Jahre hervorgebracht haben, zu überwinden, muss man im Kindergarten anfangen. Ein demokratischer Charakter kann nur in frühen Jahren sozial und psychologisch grundgelegt werden.
Der Umgang mit Kindern wurde liberaler, andere Themen gelangten in den Horizont ihres Aufwachsens. In den 80er Jahren jedoch erlahmte die reformerische Energie. Um Kinder und Kindheit wurde es stumm. Als Rentenverdiener war noch von ihnen die Rede, von den immer weniger werdenden Kindern und Rentenverdienern. Darüber hinaus zogen Kindheit und Kinder wenig Phantasie auf sich. Eine soziale Minderheit, um die sich die Angestellten in den sozialen Berufen schon kümmern würden. In der westdeutschen Fachszene der Kindergärten ging es in den 80er Jahren vor allem um »Betreuung« auf »Betreuungsplätzen« mit »bedarfsgerechten Öffnungszeiten« – während die Mütter arbeiteten oder studierten.
Das Interesse verlagerte sich von den Kindern auf die Frauen. »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« war die Devise. Der Kindergarten – ein Dienstleistungsbetrieb.
In der Fachdiskussion der Berufserzieher in diesen Jahren ging es vorwiegend um »Rahmenbedingungen der Kinderarbeit«. Unsinnlich bis in die Sprache hinein, hießen Kindergärten fortan »Einrichtungen«, in denen »bedarfsgerecht betreut« werden sollte, mit der »Elternschaft« wurden »Betreuungsansätze« und »Öffnungszeiten« gemäß deren »Erwartungshaltung« »ausgehandelt«, und den Kindern im Kindergarten begegnete man nicht mehr in Räumen, sondern in »Räumlichkeiten«. Erträglich für die Kinder sollte ihre betreute Unterbringung allerdings sein, soviel wollte man in einem reichen Land verlangen können. Der Kindergarten sollte vor allem ein spannungsfreies und ein unterhaltsames Milieu sein. Lernen, wenn überhaupt, sollte spontan, unbemerkt zustande kommen. Erwartungen an Begegnungen mit Kunst und Wissenschaft wurden auf spätere Jahre verschoben. Die Erzieherinnen hatten da nichts beizutragen, sie waren fürs Soziale zuständig. Lernen, Bildung wurden gleichgesetzt mit »Leistungsanspruch«, und diesen nicht »vorzuziehen« galt als die besondere Aufgabe von Erziehern. »Kreativ«, »gewaltfrei«, waren die Stichworte. Wenig Zukunftssorgen scheint man sich um Kinder in den 80er Jahren gemacht zu haben, in diesen Jahren der Wachstumsgewissheit der alten Bundesrepublik, den Jahren mit der niedrigsten Arbeitslosenrate der deutschen Geschichte.
Die Kindheit nicht verschulen! Noch heute entwerfen Erzieherinnen in ihren Zukunftsszenarios bevorzugt Rückzugsecken, geschützte Raumebenen in Kindergärten mit gedimmertem Licht, snoezle rooms, Klangmulden,