Es sollte den langsamen Satz einer Sinfonie vom Recorder dirigiert haben und erlebt haben, dass die Pause ein Teil von Musik ist. Es sollte drei Fremdsprachen oder Dialekte am Klang erkennen. Drei Rätsel, drei Witze erzählen können. Einen Zungenbrecher aufsagen können. Es sollte drei Gestalten oder Phänomene in Pantomime darstellen können und Formen der Begrüßung in zwei Kulturen. Ein Gebet kennen. Reimen können, in zwei Sprachen. Ein chinesisches Zeichen geschrieben haben. Eine Sonnenuhr gesehen haben. Eine Nachtwanderung gemacht haben. Durch ein Teleskop geschaut haben, zwei Sternbilder erkennen. Wissen, was Grundwasser ist. Was ein Wörterbuch ist, eine Wasserwaage, eine Lupe, ein Katalysator, ein Stadtplan, ein Architekturmodell. In einer Bücherei gewesen sein, in einer Kirche (Moschee, Synagoge…), in einem Museum. Einmal auf einer Bühne gestanden haben und einem Publikum mit anderen etwas Vorbereitetes vorgetragen haben.
Ein siebenjähriges Kind sollte einige Ereignisse aus der Familiengeschichte kennen, aus dem Leben oder der Kindheit der Eltern oder Urgroßeltern. Und etwas aus der eigenen Lebensgeschichte: zwei Anekdoten über sich selbst als Kleinkind erzählen können. Wissen, zu welcher Zeit – der Eltern, der Großeltern – das Haus gebaut ist, in dem man wohnt.
Einen Streit aus zwei Positionen erzählen können. Ein Beispiel für Ungerechtigkeit beschreiben.
Konzepte kennen: Was ist ein Geheimnis, was ist Gastfreundschaft, was ist eine innere Stimme, was ist Eifersucht, Heimweh, was ist ein Missverständnis. Ein Beispiel kennen für den Unterschied zwischen dem Sachwert und dem Gefühlswert von Dingen…
Empörung löste diese Liste zunächst oft aus. Übersteigerte Ansprüche! Wörter in Blindenschrift lesen, ein chinesisches Zeichen schreiben – das kann ich ja selbst nicht. »Das hat jemand geschrieben, der keine Kinder hat.« Eine Sinfonie vom Recorder dirigieren – bildungsbürgerlich! Zwei Zungenbrecher aufsagen, drei Lieder kennen – warum nicht sechs, oder gleich fünfzehn? »Grundwasser – den Kindern die Schlechtigkeit der Welt aufladen. Welche Ökonudel hat sich das ausgedacht.« Allein die Form, eine Liste – wie pedantisch! »Ein Theoriefurz.« Sollen damit künftig alle Kinder durchgecheckt werden?
Den Gesprächen gab der Ärger Energie. Und muss man sich nicht wehren gegen die Zumutung, gegen diese prometheische Anmaßung? Wird man bei der Konstruktion einer optimalen Kindheit nicht immer zugleich das Negative, das Defizit definieren? Erzeugt man beim Ausphantasieren des Guten nicht zugleich das Schlechte, die depravierte, die ungebildete Kindheit? Wendet sich das Ideal nicht immer gegen den konkreten Menschen, das konkrete Kind? Kann eine ideale Kindheit besser sein als die reale, die erlebte? Ist nicht der wirkliche Mensch der höhere Wert als der wünschbare Mensch? Ist der optimale Siebenjährige ein totalitäres Konstrukt?
Ein Missverständnis! haben wir entgegnet. Das ist keine Checkliste der bei den Kindern abzuprüfenden Fertigkeiten und Erfahrungen. Eher schon ist es eine Checkliste der Pflichten der Erwachsenen. Es soll ihrer Selbstverpflichtung dienen: Welche Bildungsgelegenheiten schulden wir den Siebenjährigen? Ein Versprechen: dafür zu sorgen nehmen wir uns vor, wir Eltern, Erzieher, Nachbarn. Angeboten soll es den Kindern werden. In den Horizont der Erwachsenen sollten diese Möglichkeiten in den ersten sieben Lebensjahren ihrer Kinder irgendwann einmal getreten sein…
Fülle spricht von der Macht des Möglichen. Nicht alle Beispiele für Bildungs-Anlässe können in ein einziges Kinderleben gepresst werden, »bulimisch«, wie ein Vater befürchtete. Das überstimulierte Kind, bis zum Anschlag gefördert, belagert, pädagogisch umkreist, überfordert … Nein, als Generation sind die Siebenjährigen gemeint! Und doch: Keine dieser Gelegenheiten sollte in einem Kinderleben grundsätzlich von vorneherein ausgeschlossen sein.
Nur so kann ein Bildungskanon für die frühen Jahre heute aussehen. Die Überlegenheit des Möglichen über das Wirkliche muss immer spürbar bleiben. Das Wirkliche darf das Mögliche nicht so reduzieren, dass sich der Horizont schließt.
Diese Beschränkung ist im »Situationsansatz« angelegt, der bei westdeutschen Kindergartenerziehern seit den 70er Jahren beliebt ist. Bequem vereinfacht hört sich das pädagogische Konzept so an: »Die Kinder interessiert nur, was sie selbst fragen. Wir greifen nur das auf, was ihrer Lebenssituation entspricht…« Das legt Kinder fest auf den Zufall ihrer Geburt, ihrer Schicht. Wir kommen nicht umhin, selbst gegenüber den Kindern Schicksal zu spielen. Beeren vom Busch pflücken, Orgelspiel in einem Dom hören, ein Stück Mauer bauen, eine Nachtwanderung – das sind elementare Bildungserlebnisse, die die aktuelle »Lebenssituation« vieler Kinder nicht spontan hergibt.
Die erste Liste – aber auch die zweite, nach hundertfünfzig Gesprächen erweiterte Liste, die nun gleich vorgestellt wird – endet, wie Robert Musil den Mann ohne Eigenschaften enden lassen wollte: »mit einem Komma«. Open end. Ein Kanon der den Kindern geschuldeten Bildungserfahrungen kann heute kein geschlossener Kreis sein, kein »orbis« wie zu Zeiten von Comenius. Das konzentrische Kreisen um das Nest der Vierjährigen, der Sechsjährigen ist eine fortlaufende Bewegung. Die Erwachsenen üben dabei diese Bewegung des Umkreisens, des Abtastens, der ausschweifenden Vorsorge. Diese Horizontumkreisung ist auch ein nie zu Ende gespieltes Spiel. Mit der Welt-Einwohnung ist es ähnlich wie mit dem Wohnen. Das ist noch nicht fertig, sagen Erwachsene entschuldigend, wenn sie durch ihr neues Heim führen. Fertige Wohnungen, heißt es in einer »Bildungsminiatur« in diesem Buch, sind eine Kampfansage an Kinder. Das Umrunden des Horizonts wird nie beim Anfang landen, der Kreis wird sich nie ganz schließen, weil man auf der Reise immer ein wenig die Richtung gewechselt hat. Es kann einen vollständigen Kanon ebensowenig geben wie ein vollständiges Weltbild. Emergent curriculum nennt die amerikanische Pädagogik diese spiralförmige pädagogische Bewegung.
Aber das beliebig Mögliche darf die Wirklichkeit auch nicht überwältigen. Das »Allmögliche« löst die Qualität ebenso auf wie das Unmögliche.
Die Recherche hat übertrieben. (Auch Kinder übertreiben gern. Dieses Recht haben wir von ihnen ausgeborgt.) Wird nun die Liste durch jede zusätzliche Anregung immer länger? Wie jemals vom Konditional zum Indikativ umschalten, mit welchem Maß?
Die meisten unserer Gesprächspartner haben das pragmatisch für sich selbst gelöst. In vielem konnten sie sich bestätigt fühlen. »Etwas spenden, das machen wir sowieso. Handtücher werden bei uns nicht gebügelt. Wo kämen wir da hin. Aber Schuhe putzen, das hat meine Tochter schon mit fünf Jahren gern gemacht. Vieles davon gab es bei uns auch.« – »Einen Friedhof besuchen. Warum nicht.« – »Ein Baumhaus bauen, das fehlt noch auf Ihrer Liste.« – »Chinesisches Zeichen schreiben – Unsinn. Aber Blindenschrift … darüber kann man nachdenken«.
Menschen haben das vor sich, was sie vorhaben. Prophezeiungen, einmal ausgesprochen, haben die Tendenz, sich zu bewahrheiten. Die Enttäuschung über ihre Nichterfüllung wäre anstrengender als die Mühe, sie zu verwirklichen. Von der Weltwissen-Liste ging eine tonisierende Wirkung aus, der Ansporn der »operativen Illusionen«, wie Sloterdijk es nennt.5 Man kann Qualität in gewissem Sinn auch herbeireden. Auf dem Weg des Redens leben wir uns in ferne Horizonte ein. Wer sich nichts mehr vormacht, hat nichts mehr vor sich.
Expectations matter, sagte die berühmte amerikanische Bildungsforscherin Diane Ravitch.6 Auf die Erwartungen kommt es an. Zwar setzen politische Erwartungen an Bildung in Deutschland nach wie vor zuallererst an der Universität an, um dann abwärts auf immer kleinerer Flamme herunterdefiniert zu werden übers Gymnasium bis allenfalls zur Grundschule. Für die frühen Jahre bleibt nichts mehr übrig. Als das Bildungsministerium in der Delphi-Studie (1996–1998), einer mehrstufigen Befragung von über tausend Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, die Einschätzungen zur Zukunft des Wissens und den vermuteten Rückwirkungen auf das Bildungssystem abfragte, war im Entwurf des Fragebogens unter achtzig Fragen nicht eine einzige auf die vorschulische Zeit gerichtet. Keine einzige Frage sprach die Grundlegung von Neugier und Interesse in der frühesten Bildungsphase an. Im letzten Moment wurden noch zwei Fragen zu Bildungserfahrungen in vorschulischer Zeit aufgenommen. Dann allerdings war in diesem Punkt das Plädoyer der Experten einhellig: für gesteigerte Erwartungen an Bildung in frühen Jahren.7
Mittlerweile haben sich – gemessen an der Betreuungspädagogik und der fun morality der 80er Jahre – die Erwartungen an die Vorschulzeit