und Begriffe
Hans Selye, der als Begründer der systematischen Stressforschung gilt, hat eine korrekte Definition von Stress schon 1976 als „eines der zehn größten Probleme nach 40 Jahren Stressforschung“ beklagt (Selye, 1976a). Weitere knapp 40 Jahre später scheint die Frage „Was ist Stress?“ immer noch schwer in einem Satz zu beantworten (Cooper, Dewe & O’Driscoll, 2001; Meurs & Perrewé, 2011; Zapf & Semmer, 2004). So beklagen beispielsweise Zapf und Semmer in ihrem Überblicksartikel zu Stress immer noch „babylonisches Begriffswirrwarr“ (2004, S.1008). Cooper und Kollegen (2001) stellen fest, dass der Begriff Stress sowohl für auslösende Bedingungen, Reaktionen und Prozesse verwendet wird und es damit immer wieder zu Verwirrung in der Literatur kommt und Meurs und Perrewé (2011) kritisieren die über lange Jahre dominierende Fokussierung in der Stressforschung auf die negativen und schädigenden Aspekte von Stress und die Vernachlässigung der Erforschung von positiven und adaptiven Aspekten von Stress. Eine allgemeingültige Definition für Stress existiert hiernach bis heute nicht. Im Folgenden versuchen wir daher, zunächst eine Auswahl von älteren und neueren Stresstheorien und Konzeptionen darzustellen, die die Stressforschung aktuell beeinflussen und aus denen wichtige Erkenntnisse zur Beschreibung, Erklärung und Vorhersage von Stress in der Arbeit und Handlungsempfehlungen für die berufliche Praxis abgeleitet werden können. Wir versuchen den gemeinsamen Kern dieser Konzeptionen herausarbeiten und die Implikationen für die Praxis zusammenfassend darzustellen.
Stress und das Allgemeine Adaptionssyndrom von Selye
Der Physiologe Selye (1956) definiert Stress als die Wechselwirkung von Schädigung („damage“) und Verteidigung („defence“), vergleichbar mit dem Begriff der Spannung aus der Physik („tension“), der die Wechselwirkung von Kraft und Widerstand kennzeichnet. Stress hat nach Selye die Funktion Adaptionsleistung im Organismus zu initiieren (Selye, 1950). Auslöser für Stress können vielfältige spezifische Stressoren sein, beispielsweise ein Streit zwischen Eheleuten, Frustration bei der Arbeit oder eine Verbrennung. Ein wesentliches Merkmal der Konzeption Selyes ist die Unspezifität der Stressreaktion. Er ging davon aus, dass unterschiedlichste Stressoren eine identische Stressreaktion auslösen. Das heißt, dass ein Stressor neben der für ihn jeweils spezifischen Wirkung (z. B. Ärger über den Partner, Arbeitsunzufriedenheit, eine Brandwunde) generell Wirkung als Stress entfaltet. Stress manifestiert sich im Allgemeinen Adaptionssyndrom (engl. general adaption syndrom). Das Allgemeine Adaptionssyndrom beinhaltet alle durch Stressoren ausgelösten unspezifischen biologischen Veränderungen und beschreibt die chronologische Entwicklung der körperlichen Reaktion auf akute und andauernde Stressoren jedweder Art (Selye, 1950, 1956). Der Organismus versucht dabei, sich an aktuelle und andauernde Stressoren zu adaptieren, um das vital notwendige körperliche homöostatische Gleichgewicht (z. B. Glukoseniveau im Blut) aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen. Damit soll die körperliche Funktionsfähigkeit sichergestellt werden. Die Anpassung erfolgt durch charakteristische Veränderungen, die in drei Phasen unterteilt werden und die physiologische Stressreaktion widerspiegeln. Die erste Phase („Alarmreaktion“) ist durch einen Anstieg der Glucocorticoide (Hormone aus der Nebennierenrinde, bereiten den Körper auf die „Alarmreaktion“ vor durch Einfluss auf Stoffwechsel, Herz-Kreislaufsystem, etc.) gekennzeichnet und dauert einige Minuten bis wenige Stunden an. In Laborexperimenten mit Tieren zeigt sich: Ist der schädigende Reiz zu intensiv, stirbt der Organismus unter fortgesetzter Stimulation nach kurzer Zeit. Überlebt er jedoch diese erste Phase, kommt es zu einem Absinken des Glucocorticoidspiegels (Selye, 1976a). Diese zweite Phase interpretierte Selye als eine gelungene Anpassung des Organismus an den jeweiligen Stressor („Widerstandsphase“). Unter anhaltender Belastung kann es jedoch dazu kommen, dass die Adaptationsfähigkeit des Körpers überschritten wird, was wiederum zu einem Anstieg des Glucocorticoidspiegels führt. Bleibt der Stress bestehen, kommt es zu langfristig schädigenden Folgen. Im Laborexperiment mit Tieren stirbt der Organismus („Erschöpfungsphase“).
Abbildung 1
Stress und physiologische Reaktionen
Selye zeigte, dass die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse (HHNA) als die zentrale Stressachse des Körpers angesehen werden muss (Selye, 1976b). Seine Erkenntnisse über die Bedeutung der Nebennierenrinden-Hormone für die physiologische Stressreaktion und seine Konzeptualisierung dieser hormonellen Stressreaktion wird bis heute als weitgehend richtig angesehen (Kirschbaum & Hellhammer, 1999; Kirschbaum, 1991). Die HHNA ist ein komplexes Netzwerk interagierender Hormone und Nervenbahnen, die die Synthese und Sekretion des als Stresshormon bezeichneten Cortisols regulieren. Dabei ist der primäre Aktivator der HHNA der Corticotropin Releasing Faktor (CRF), der im Gehirn in einer Region des Hypothalamus produziert wird. Seine Freisetzung wird wahrscheinlich von Nervenbahnen aus dem Hirnstamm ausgelöst. CRF gelangt zum Hypophysenvorderlappen, wo es die Sekretion des adrenocorticotrophen Hormons (ACTH) induziert. ACTH erreicht die Nebennierenrinde und bewirkt die Synthese und Sekretion von Cortisol und anderen Glucocorticoiden. Cortisol ist lebensnotwendig und wird in einem spezifischen zirkadianen Rhythmus produziert. Es reguliert den Glucoseverbrauch im Gewebe, die Umwandlung von Fetten in Glucose, den Elektrolythaushalt und übt Effekte auf das Immunsystem aus. Darüber hinaus beeinflusst Cortisol die Funktionen des Zentralen Nervensystems (ZNS), insbesondere den Tiefschlaf (slow wave sleep), die Stimmung und die Wahrnehmungsschwellen für Sinnesreize (z. B. Chida & Steptoe, 2009). Physische und psychische Stressoren führen zu einer bedeutsamen Steigerung der HHNA-Aktivität. Dieser Anstieg kann in Studien sowohl als Folgereaktion auf akute Stressoren (z. B. Deinzer, Kirschbaum, Gresele & Hellhammer, 1997), als auch als Folgereaktion bei länger einwirkenden Stressoren (Lundberg & Hellström, 2002; Michaud, Matheson, Kelly & Anisman, 2008) nachgewiesen werden. Die Erhöhung des Cortisolspiegels führt zu einer erhöhten Wachheit, Mobilisierung von Energie und einer erhöhten Durchblutung der Muskulatur. Gleichzeitig führt der erhöhte Cortisolspiegel dazu, dass weniger akut benötigte Körperfunktionen wie die Verdauung reduziert werden. Damit steht dem Körper kurzfristig mehr Energie zur Verfügung. Dieses erhöhte Reaktionspotenzial soll den Organismus in die Lage versetzen, auf akute Stressoren Einfluss zu nehmen. Im günstigsten Fall kann die Bedrohung durch „Kampf“ oder „Flucht“ beendet werden. Die Synthese und Sekretion von Cortisol wird dann wieder verringert, wenn der Stressor nicht mehr aktiv ist. Kommt es allerdings zu einer anhaltenden Stressoraktivität und damit zu einer anhaltenden stressinduzierten Glucocorticoitausschüttung, wird die Anpassungsreaktion überfordert. Im Tierexperiment kommt es zu krankhaften Veränderungen der Nebennierenrinde, der Thymusdrüse und zu Magengeschwüren (Selye, 1976b).
Neben dem hormonellen System der HHNA-Achse ist die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse als zweites Kommunikationssystem für den Informationsaustausch zwischen den einzelnen Organen des Körpers am Stressgeschehen beteiligt (siehe z. B. Despopoulos & Silbernagl, 2003). Die Erforschung dieser Stressachse geht auf die Arbeiten von Cannon (1913) zurück. Das Nebennierenmark ist ein Gewebeabschnitt der Nebennieren. Die Steuerung der Sympathikus-Nebennierenmark-Achse erfolgt in erster Linie durch den Hypothalamus, ein Gehirnabschnitt, der besonders für die Steuerung der vegetativen Funktionen zuständig ist, und das limbische System, das als neuroanatomische Grundlage von Emotionen angesehen wird und u. a. Informationen an den Hypothalamus weitergibt. Das Nebennierenmark setzt bei Aktivierung die beiden Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin frei. Unter Einfluss eines Stressors kommt es dann zu einer unmittelbaren, stark erhöhten Ausschüttung. Die wichtigste Funktion ist eine schnelle Mobilisierung eingelagerter Energiereserven. Weniger wichtige Organfunktionen werden heruntergefahren (z. B. die Verdauung). Darüber hinaus beeinflusst die Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin unter Stress kardiovaskuläre Funktionen. Die Herzfrequenz, Kontraktilität und Blutdruck steigen an. Weiterhin werden über die Katecholamine die Skelettmuskeln, das Herz und das Gehirn vermehrt mit Sauerstoff versorgt. Cannon (1913) hat diese schnelle körperliche Reaktion auf unmittelbare Gefahren und starke Emotionen wie Furcht, Angst, oder Wut als „fight-or-flight“ Reaktionen charakterisiert. Selye konnte zeigen, dass die stark erhöhte Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin und die damit erreichte schnelle und unmittelbare Ausstattung des Organismus für Flucht oder Angriff, die in Stresskonzeption Cannons im Vordergrund stand, hauptsächlich in