90 Kilometern“ rieb Blue Origin dem Rivalen gleich mal kräftig unter die Nase. In einer E-Mail des Blue Origin CEOs Bob Smith hieß es mit Bezug auf Branson. “Wir wünschen ihm einen fabelhaften und sicheren Flug. Aber sie werden nicht über die Karman-Linie hinauskommen, und das ist dann schon eine sehr unterschiedliche Erfahrung”. Auf den sozialen Medien schob Bezos gleich noch etliche hämische Infografiken hinterher, die den Konkurrenten in Misskredit bringen sollten.
Tatsächlich bleibt Branson unterhalb der Karman-Linie, die heute – mit Ausnahme der USA – weltweit als die „offizielle“ (wenngleich nicht physikalisch korrekte) Grenze zum Weltraum gilt. Branson markiert sie gezwungenermaßen nach der US-Definition: Für die beginnt der Weltraum in nur 50 Meilen (also bei etwa 80,5 Kilometern) Höhe. Diese US-Definition, das nur am Rande, geht zurück auf den US-Juristen Andrew Hawley. Der war seinerzeit Präsident der International Astronautical Federation, die sie 1957 mit 275.000 Fuß festlegte, also 52,1 Meilen oder 83,8 Kilometer. Die US-Luftwaffe, die als erste praktisch mit dem Problem zu tun hatte, rundete das einfach nach unten auf die besagten 50 Meilen ab. Ursprünglich hatte Branson für sein SS2 durchaus ebenfalls die 100-Kilometer-Marke im Auge. Aber im Laufe des langjährigen Entwicklungsprozesses geriet das Schiff schwerer und schwerer, und so musste Branson die Erwartungen an sein suborbitales Raumflugzeug reduzieren.
Auch Art und Dauer des Erlebnisses sind unterschiedlich. Bei Virgin Galactic dauert die ganze Mission etwa 75 Minuten. 60 davon braucht es aber schon, bis das WhiteKnight2-Mutterflugzeug das raketenbetriebene SpaceShip2 auf seine Absetzhöhe bringt. Immerhin dürfte auch das schon ganz schön aufregend sein. In 13.500 Metern Höhe angekommen wirft das Mutterflugzeug die geflügelte Rakete ab, und die eigentliche Show beginnt: Eine Minute angetriebene Flugphase mit bis zur vierfachen Erdbeschleunigung, drei Minuten Schwerelosigkeit auf einer Wurfparabel, die bis auf die erwähnten knapp 90 Kilometer Höhe führt, dann eine Minute „Wiedereintritt“ mit Belastungen bis zu fünf g, und schließlich ein etwa zehnminütiger Gleitflug zurück zum Spaceport America in der Nähe der White Sands Missile Range in New Mexico.
Der New Shepard dagegen startet auf dem Privatgelände von Jeff Bezos in Texas. Der so genannten „Corn Ranch“, auf der es nichts weniger gibt als „Corn“ (also: Mais), sondern nur eine nahezu vegetationslose Wüste. Das Gelände ist nicht viel kleiner als der Staat Luxemburg. Der Start der einstufigen Rakete dauert etwa drei Minuten und ist deutlich sanfter als der Flug von SS2. Danach löst sich die himbeerbonbonförmige Kapsel. Nun folgen gut drei Minuten Schwerelosigkeit und das Abfliegen einer steilen Parabel mit einem Scheitelpunkt in etwa 105 Kilometern Höhe. Danach folgt der „Wiedereintritt“ mit kurzzeitigen Belastungen bis etwa fünf g und schließlich die Landung am Fallschirm in der Wüste. Gesamtdauer von der Zündung der Rakete bis zum Aufsetzen der Kapsel: knapp elf Minuten.
Damit waren die Eckpunkte abgesteckt: SpaceShip2 ist ein klassisches, analoges, anmutig anzusehendes Raketenflugzeug, das von zwei Piloten handgesteuert in den Himmel steigt. Branson fliegt neun Tage früher als Bezos, aber nicht so hoch. Der New Shepard dagegen ist eine moderne Rakete bei der alles vollautomatisch läuft. Es gibt keine Piloten an Bord, die irgendetwas steuern müssten. Bezos fliegt etwas später, ist aber, ungeachtet welche Definition man auch immer anwendet und anders als Branson, definitiv im Weltraum. Somit könnte man meinen: Wenn alles klappt, hat die Sache zwei halbwegs gleichberechtigte Sieger.
Doch so wollte das Jeff Bezos nicht stehen lassen. Der hatte ja seiner „Jungfernflugmission“ bereits durch die Auktion einen philantropischen Touch gegeben. Jetzt legte er nochmal eins drauf und lieferte die nächste Sensation: Er lud für den Flug die inzwischen 82-jährige Wally Funk ein. In Deutschland ist sie unbekannt, für die US Aerospace-Gemeinde ist sie aber eine Legende. Nicht nur dass sie in ihrem Berufsleben als Pilotin fast 20.000 Flugstunden absolviert (und als Fluglehrerin mehrere hundert Piloten ausgebildet) hat, sie war auch Mitglied der legendären „Mercury 13“, jener Gruppe von Frauen, die sich in den Frühtagen des bemannten US-Raumfahrtprogramms allen medizinischen Tests unterwarfen, welche auch die männlichen Raumflug-Aspiranten erfüllen mussten. Diese Tests, das nur nebenbei, führte keineswegs die NASA durch, wie heute oft behauptet wird, sondern eine rein private Initiative. Keine von ihnen kam damals zum Zug, denn Präsident Eisenhower legte, um die Pilotenauswahl abzukürzen fest, dass sich die zukünftigen Weltraumflieger aus den Reihen der militärischen Testpiloten rekrutieren mussten.
Es gibt dabei noch eine besonders pikante Note: Wally Funk hatte sich nämlich bereits 2010 ein „Ticket“ bei Virgin Galactic gekauft. Für damals 170.000 Dollar. Das Unternehmen konnte aber bis zum heutigen Tag die seinerzeit verkaufte Leistung nicht liefern. Nun ist also Blue Origin dafür eingesprungen und gibt ihr einen kostenlosen Flug und das sogar in eine größere Höhe als Virgin Galactic schaffen würde. Somit hatte Bezos Branson wieder eins ausgewischt. Die Durchführung der Flüge ist bekannt. Es wurde vielfach darüber berichtet, deshalb hier nur eine stichwortartige Zusammenfassung: Am 11. Juli erfolgte wie geplant der Flug der VSS Unity mit Dave Mackay, Mike Masucci, Beth Moses, Sirisha Bandla, Colin Bennett und Sir Richard Branson an Bord. Die Mission ging auf eine Flughöhe von knapp über 86 Kilometern und schien zunächst vollständig erfolgreich verlaufen zu sein (zum „schien“ gleich mehr). Am 20. Juli flog auch der New Shepard mit Jeff und Mark Bezos, Wally Funk und dem zahlenden Passagier Oliver Daemon. Die Kapsel erreichte eine Flughöhe von knapp über 107 Kilometern. Und es gab noch einige „Weltrekorde“ einzuheimsen, denn erstmals flog ein Brüderpaar in den Weltraum (Jeff und Mark Bezos), zusammen mit dem ältesten Menschen, der je einen Raumflug unternommen hat (Wally Funk mit 82) und dem jüngsten Menschen im Weltraum (Oliver Daemon mit 18). Insofern könnte man an dieser Stelle vermelden: Mission accomplished. Gleichstand zwischen den Ego-Shootern. Jeder der beiden Alphatiere konnte sein Gesicht waren. Doch das stimmt nicht ganz. Sehen wir uns dazu an, was danach geschah.
Nachtrag I
Die Show an sich, die sowohl Bezos als auch Branson um ihre jeweiligen Flüge durch ihre PR-Abteilungen veranstalten ließen, wurde weltweit als erheblich „overdone“ betrachtet. Viel Pathos, Pomp, Prahlerei und Protz und zu wenig der Boden der Tatsachen. Branson, ohnehin schon berüchtigt für seine Extravaganz und peinliche Selbstdarstellungssucht übertrieb es mal wieder, und das wurde gerade von der Gemeinde der Raumfahrtfans gar nicht goutiert. Im Livestream vom Morgen des Fluges erschien Branson, ein selbst ernannter Umweltschützer, mit dem Fahrrad am Spaceport und begrüßte dort seine Mitflieger. Das stellte sich aber bald als Fake heraus. Branson war an diesem Tag keineswegs mit dem Fahrrad vom 50 Kilometer entfernten Truth and Consequences hergeradelt, wie er glauben machen wollte. Die Szene war schon eine Woche vor dem Start gedreht worden, Branson hatte dabei gerade mal 200 Meter mit dem Fahrrad zurückgelegt, und dann wurde das in die aktuelle Berichterstattung hineingeschnitten, um den Eindruck zu erwecken, dass es am Morgen des Starts geschehen sei. Die Nachrichtenagentur Reuters fand das heraus, und ein Firmensprecher tat danach kund, dass “Virgin den Fehler und die Verwirrung, die es gestiftet hat, bedauert.“
Nachtrag II
Deutlich ernster war der zweite Vorfall, der erst am 1. September durch einen Artikel im „The New Yorker“ bekannt wurde. Danach hat es gegen Ende der angetriebenen Phase des Fluges ein Warnlicht im Cockpit gegeben, das einen zu flachen Steigwinkel anzeigte. Die Folgen wären neben einer zu geringen Gipfelhöhe (und tatsächlich erreichte VSS Eve statt der erhofften 90 Kilometer nur 86 Kilometer) gefährliche Auswirkungen auf den so genannten „Cone“ gewesen. Dabei handelt es sich um einen imaginären Kegel im Raum, den das Fluggerät nicht verlassen darf, soll das Energiemanagement für den antriebslosen Rückflug zum Flughafen erfolgreich sein. Statt abzubrechen, wie es für diesen Fall vorgesehen war, lief das Triebwerk weiter bis zum Brennschluss. Dies war die Entscheidung der beiden Piloten, denn SpaceShip2 läuft analog. Es gibt an Bord keine computergestützten Entscheidungsprozesse. Und die Piloten entschieden sich dafür, den Flug fortzusetzen. Inwieweit der Umstand mitspielte, dass der Chef hinten in der Kabine saß und einen Erfolg erwartete, bleibt der Vermutung überlassen. Immerhin, die beiden Piloten kannten ihr