Eugen Reichl

SPACE 2022


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sie. Für einen Zeitraum von einer Minute und 41 Sekunden flog VSS Unity unterhalb des zugewiesenen Luftraumes, wie eine unabhängige Quelle (Flightradar24) bewies. Ein Hinweis darauf, dass das Energiemanagement für den Gleitflug zurück zur Basis gefährlich beansprucht wurde. Nach 101 Sekunden kam VSS Unity zwar wieder in den so genannten „restricted airspace“, aber nur weil dieser – nun schon recht nahe am Flughafen – ab da ohnehin bis zum Boden reichte. Es war also notwendig gewesen, den Anflug so weit wie möglich zu strecken um eine möglichst große Distanz zu überbrücken. Dies gelang am Ende. Das Verlassen des zugewiesenen Luftraums meldete Virgin aber zunächst nicht der FAA. Ein weiteres Manko. Eine pikante Randnote ist außerdem, dass Virgin erst kurz vor Bransons Flug seinen legendären Testpiloten und Flugdirektor Mark Stucky auf beschämende Weise gefeuert hatte (via Zoom!). Stucky hatte immer wieder intern hartnäckig auf die laxe Handhabung von technischen Problemen und auf Sicherheitsmängel bei Virgin hingewiesen, und immer wieder nachdrücklich mehr technisches Personal gefordert.

      Nachtrag III

      Am 2. September 2021 kündigte Virgin Galactic auf ihrer Homepage die Durchführung ihres ersten kommerziellen Einsatzes an. Dabei sollen drei italienische Luftwaffenangehörige Mikrogravitationsforschung betreiben. Der Flug war schon früher informell angekündigt worden, wurde hier aber insofern präzisiert, als die Namen der vollständigen Crew genannt wurden: Walter Villadel, Angelo Landolfi und Pantaleone Carlucci von der italienischen Luftwaffe, Beth Moses als Astronauten-Ausbilderin von Virgin Galactic und die beiden Piloten Mike Masucci und CJ Sturckow. Außerdem wurde noch das ungefähre Flugdatum verkündet: Ende September. Diese Ankündigung kam zu einem Zeitpunkt, an dem die Auswertung der FAA zum Vorfall vom 11. Juli noch lief. Die Untersuchungen der FAA wurden in der Ankündigung von Virgin Galactic mit keinem Wort erwähnt. In den sozialen Medien aber, hauptsächlich über Twitter, versuchte Virgin Galactic den Eindruck zu erwecken, dass diese Untersuchung eine reine Formsache sei, die so gut wie erledigt wäre. Die Antwort der FAA ließ nicht lange auf sich warten. Noch am selben Tag stellte die FAA klar, dass sie die Sache keineswegs als erledigt betrachte, Virgin Galactic derzeit keine Flugerlaubnis bekommen werde und deshalb die Ankündigung ins Leere laufe.

      Letzter Nachtrag

      Hier soll kein falscher Eindruck entstehen. Ich bin keineswegs gegen den Wettbewerb zwischen Virgin Galactic und Blue Origin. Und ich bin auch nicht dagegen, dass die beiden Firmenbosse selbst bei diesen Demonstrationsflügen mit an Bord waren. Ganz im Gegenteil. Es signalisiert den Beobachtern: „Seht her, unser System ist so zuverlässig, dass wir uns ihm selbst anvertrauen. Also könnt ihr es auch tun“. Beide Fluggeräte, so begrenzt sie in ihren Fähigkeiten auch sein mögen, sind wichtige Schritte hin zur „Sozialisierung“ der Raumfahrt. Nicht nur für „Touristen“, sondern auch für Wissenschaftler, die Mikrogravitationsforschung, Astrophysik, Astronomie und andere Fachgebiete betreiben, die man auf der Erde nun mal entweder gar nicht oder nur begrenzt wahrnehmen kann. Ein suborbitaler Flug mag kurz sein, aber er ist dafür auf absehbare Zeit um eine ganze Größenordnung billiger als ein Orbitalflug. Bei Blue Origin hat im Übrigen das Wissenschaft-Business schon begonnen. Schon in der Vergangenheit wurden bei Testflügen immer wieder einmal wissenschaftliche Nutzlasten mitgeführt. Am 27. August führte ein New Shepard eine Wissenschaftsmission mit 18 kommerziellen Nutzlasten und einer Versuchsanordnung der NASA für das Anflugverfahren bei Mondlandungen durch. Die Mission wurde unbemannt geflogen. Bei Virgin Galactic dagegen kommt es nach dem Flug für die italienische Luftwaffe – wenn er denn stattfindet – erst einmal zu einer sehr langen Flugpause. Acht Monate sind es diesmal. Solange dauert die vollständige Grundüberholung des WhiteKnight2-Trägerflugzeugs, das in den letzten Monaten immer umfangreichere Reparaturen erforderte.

      Mit dem Starship nach Hawaii

      Sollte das Prinzip des Starship funktionieren, dann wird das nichts weniger als eine Revolution der gesamten Raumfahrt bedeuten. Schon die schieren Dimensionen des Systems sind beeindruckend. Zusammen wird die Kombination aus Super Heavy und Starship beim Start etwa 5.500 Tonnen wiegen und etwa 120 Meter hoch sein. Sie wird damit die Saturn V aus den Tagen des Apollo-Mondprogramms als immer noch größte Trägerrakete der Welt weit hinter sich lassen. Und noch eines kann man jetzt schon prophezeien: Ein Start dieses Behemots wird akustisch dem Weltuntergang ziemlich nahekommen.

      Diese Starts werden nach Beendigung der Testphase nicht nur von Boca Chica aus erfolgen, sondern im späteren Programm zunehmend von Startplattformen weit draußen im Golf von Mexiko und von der modifizierten Startanlage 39A am Kennedy Space Center. Für den Einsatz als Meeres-Start- und Landebasen modifiziert SpaceX derzeit zwei ehemalige Erdöl-Bohrplattformen. Sie sollen die Namen Phobos und Deimos erhalten. Genauso wie die beiden Monde des Mars. So ein Name soll ja auch ein bisschen Programm sein.

      Doch noch ist es nicht ganz so weit. Wenn dieses Buch erscheint, sollte es nicht mehr lange dauern bis zum ersten Orbitalflugversuch des Starship von SpaceX. Diese Mission wird nicht von einer Plattform im Meer, sondern vom derzeitigen Testzentrum im texanischen Boca Chica aus erfolgen.

      Wo stehen wir im September 2021?

      Zum Zeitpunkt, an dem diese Zeilen entstehen (Anfang September 2021), waren die Einsätze der Starship-Prototypen mit einem vollständig erfolgreichen Flug der Serien-Nummer 15 am 5. Mai 2021 abgeschlossen. Dieser Flug ging auf etwa 10.000 Meter Höhe und dauerte knapp sieben Minuten. Elon Musk entschied sich danach, keine weiteren atmosphärischen Testflüge der Orbitaleinheit durchzuführen, sondern gleich den nächsten Flug mit einer kompletten Starship/Super Heavy Kombination und einem teilorbitalen Flugprofil zu wagen. Die ersten Starship-Flugtestgeräte wurden informell als „Starhopper“ bezeichnet. Die Leute von SpaceX bezeichneten das allererste dieser Testgeräte auch scherzhaft als den „Fliegenden Wasserturm“. Der Spitzname kommt nicht von ungefähr, denn dabei handelte es sich tatsachlich um eine klobige Stahlstruktur in der Form eines großen Wasserturms, wie er für die Südstaaten der USA typisch ist. Dieses Testmodell diente dazu, das Grunddesign des Vehikels zu überprüfen, die Funktion des neu entwickelten Raptor-Triebwerks erstmals im Flug zu testen, und die Flugsteuerung des massiven Fahrzeugs zu erproben. Mit dem Grasshopper wurden am 26. Juli und am 27. August 2019 zwei erfolgreiche Flüge bis in 150 Metern Höhe und von etwa einer Minute Dauer durchgeführt. Dem ersten Flug waren drei statische Brennläufe vorausgegangen, bei denen der Starhopper von Klammern auf dem Boden festgehalten wurde. Dem folgten am 4. August und am 3. September 2020 zwei Flüge mit Testgeräten der zweiten Generation, SN 5 und SN 6 (SN für „Serial Number“) bezeichnet. Diese beiden Testfahrzeuge waren bereits wesentlich komplexer als der noch recht einfach gehaltene „Fliegende Wasserturm“. Sie wurden mit jeweils drei Raptor-Triebwerken ausgerüstet und nicht nur mit einem einzelnen, wie beim „Starhopper“. Auch diese beiden Einsätze dauerten jeweils etwa eine Minute und führten bis in 150 Meter Höhe.

      Zwischen dem 9. Dezember 2020 und dem 30. März 2021 kamen die Prototypen der dritten Generation zum Einsatz, die SNs 8 – 11. Mit ihnen wurden erstmals komplexe Manöver geflogen, wie etwa der so genannte „Bellyflop“, bei dem sich das Vehikel im Landeanflug in eine horizontale Lage begibt, um größtmögliche Vorteile aus der atmosphärischen Abbremsung zu ziehen. Dieses Manöver muss unmittelbar vor dem Aufsetzen wieder umgekehrt werden. Das heißt, dass sich das Vehikel nun wieder innerhalb von nur etwa zwei bis drei Sekunden in eine vertikale Position begibt, um die raketengestützte Landung durchzuführen. Für diese Manöver ist es auch nötig, die Triebwerke während der mehrere Minuten langen Freifallphase abzustellen, um sie danach erneut zu zünden. Diese Testeinsätze gingen bis in zwölf Kilometer Höhe und dauerten jeweils zwischen sechs und achteinhalb Minuten. Drei der vier Versuche endeten entweder als Teilerfolg (das Vehikel führte jeweils alle Testparameter