zu sein scheint als jene «Gewalttätigen gegen sich selbst», die für die gleiche Sünde im siebenten Höllenkreise auf das schrecklichste leiden. Das Rätsel löst sich durch die Worte VergilsVergil, der von DanteDante sagt, er suche Freiheit, die so teuer ist, wie du es wohl weißt, der für sie das Leben verschmäht hat. Die Geschichte Catos ist aus ihrem irdisch-politischen Zusammenhang herausgenommen, genau wie es die patristischen Erklärer des Alten TestamentsAltes Testament mit den einzelnen Geschichten Isaacs und Jacobs u. a. taten, und sie ist zur figura futurorum geworden. Cato ist eine figura, oder vielmehr der irdische Cato, der in Utica für die Freiheit dem Leben entsagte, war es, und der hier erscheinende Cato im Purgatorio ist die enthüllte oder erfüllte FigurMittelalterFiguraldarstellung im MA, die Wahrheit jenes figürlichen Vorgangs. Denn die politische und irdische Freiheit, für die er starb, ist nur umbra futurorum gewesen: eine Präfiguration jener christlichen Freiheit, als deren Hüter er hier bestellt ist und um derentwillen er auch hier jeder irdischen Versuchung widersteht; jener christlichen Freiheit von jedem bösen Triebe, die zur echten Herrschaft über sich selbst führt, eben jener, die zu erringen DanteDante mit dem Schilf der Demut gegürtet wird, bis er sie, auf dem Gipfel des Berges, wirklich errungen hat und von VergilVergil zum Herren über sich selbst gekrönt wird. Es ist die ewige Freiheit der Kinder Gottes, für die alles Irdische zu verschmähen ist; die Befreiung der Seele von der Knechtschaft der Sünde, als deren figura Catos freiwillige Wahl des Todes vor der politischen Knechtschaft hier eingeführt wird. Wie DanteDante dazukam, Cato für diese Rolle zu wählen, erklärt sich aus der gleichsam überparteilichen Stellung, die jener bei den römischen Schrifststellern als Idealbild von Tugend, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Freiheitsliebe besaß. DanteDante fand sein Lob gleichmäßig bei CiceroCicero, VergilVergil, LucanLukan, SenecaSeneca (Philosoph) und Valerius MaximusValerius Maximus; insbesondere das vergilische secretosque pios, his dantem iura Catonem (Aen. 8, 670), zumal bei einem Dichter des Imperiums, muß großen Eindruck auf ihn gemacht haben. Wie sehr er CatoCato v. Utica bewunderte, geht aus mehreren Stellen des Convivio hervor, und daß sein Freitod auf eine besondere Weise zu beurteilen sei, fand er schon bei CiceroCicero ausgesprochen, an einer Stelle, die er in der Monarchie (2, 5) zitiert,45 und zwar in dem für ihn so bedeutenden Zusammenhang der Beispiele römischer politischer Tugend; er will dort zeigen, daß die römische Herrschaft durch ihre Tugend rechtmäßig sei, daß sie dem Recht und der Freiheit der ganzen Menschheit diene; es ist das Kapitel, in dem der Satz steht: Romanum imperium de fonte nascitur pietatis.46
DanteDante glaubt an eine vorbestimmte Konkordanz zwischen der christlichen Heilsgeschichte und der römischen Weltmonarchie; es ist also gerade bei ihm nicht verwunderlich, daß er die FiguraldeutungFiguraldeutung auf einen heidnischen Römer anwendet – er nimmt seine SymboleSymbol, AllegorienAllegorie und Figuren auch sonst aus diesen beiden Welten ohne Unterschied. CatoCato v. Utica ist ohne Zweifel eine figura; nicht wie die Gestalten des RosenromansRosenroman eine Allegorie, sondern eine Figur in dem von uns beschriebenen Sinne, und zwar eine erfüllte, bereits Wahrheit gewordene Figur. Die Komödie ist eine Vision, die die figurale Wahrheit als schon erfüllt sieht und verkündet, und eben dies ist das Eigentümliche an ihr, daß sie die in der Vision geschaute Wahrheit ganz im Sinne der FiguraldeutungMittelalterFiguraldarstellung im MA auf eine genaue und konkrete Weise mit den irdisch-geschichtlichen Vorgängen verbindet. Die Gestalt Catos, als eines strengen, gerechten und frommen Mannes, der in einem bedeutenden Augenblick seines Geschicks und der providentiellen Weltgeschichte die Freiheit höher geachtet hat als das Leben, wird in ihrer vollen geschichtlichen und persönlichen Kraft erhalten; es wird daraus keine AllegorieAllegorie der Freiheit, sondern es bleibt Cato von Utica, so wie DanteDante ihn als persönlich-einmaligen Menschen sah; aber er wird aus der irdischen Vorläufigkeit, in der er die politische Freiheit als höchstes Gut ansah, wie die Juden die strenge Bewahrung des Gesetzes, herausgehoben in den Zustand endgültiger Erfüllung, wo es nicht mehr sich um irdische Werke der Bürgertugend oder des Gesetzes handelt, sondern um das ben dell’intelletto, das höchste Gut, die Freiheit der unsterblichen Seele im Anblick Gottes.
Versuchen wir das gleiche in einem etwas schwierigeren Falle. VergilVergil ist von fast allen alten Kommentatoren als AllegorieAllegorie der Vernunft gesehen worden – der menschlichen und natürlichen Vernunft, die zur rechten irdischen Ordnung führt, das heißt, nach DantesDante Auffassung, zur Weltmonarchie. Den alten Kommentatoren schien eine rein allegorische Deutung nicht anstößig, denn sie empfanden nicht, wie wir, einen Gegensatz zwischen Allegorie und echter Dichtung. Die modernen Interpreten haben sich vielfach dagegen gesträubt und auf das Dichterische, Menschliche, Persönliche der Gestalt VergilsVergil Wert gelegt, ohne doch das «Bedeutsame» daran leugnen und es einwandfrei mit dem Menschlichen in Übereinstimmung bringen zu können. Neuerdings hat sich, und zwar nicht nur für VergilVergil, von verschiedenen Seiten (etwa einerseits L. Valli, andererseits MandonnetMandonnet, P.) wieder eine starke Betonung des rein Allegorischen oder Symbolischen geltend gemacht, die den historischen Sinn als «positivistischPositivismus» oder «romantisch» auszuschalten bemüht ist. Aber hier ist kein Entweder-Oder zwischen geschichtlichem und verborgenem Sinn; es ist eines und das andere. Es ist die figurale StrukturMittelalterFiguraldarstellung im MA, die den geschichtlichen Vorgang bewahrt, indem sie ihn enthüllend deutet, und die ihn nur dadurch deuten kann, daß sie ihn bewahrt.
Der geschichtliche VergilVergil ist, in DantesDante Augen, zugleich Dichter und Führer. Er ist als Dichter ein Führer, weil in seinem Gedicht die politische Ordnung, die DanteDante als die vorbildliche, als die terrena Jerusalem47 ansieht, der allgemeine Frieden unter dem römischen Kaisertum, in der Unterweltsfahrt des gerechten Aeneas prophezeit und verherrlicht wird; weil darin die Gründung Roms, des vorbestimmten Sitzes von weltlicher und geistiger Gewalt, im Hinblick auf seine zukünftige Mission besungen wird. Er ist vor allem auch als Dichter ein Führer deshalb, weil alle späteren großen Dichter von seinem Werke entzündet und inspiriert wurden; das hebt DanteDante nicht nur für sich selbst hervor, sondern führt noch einen zweiten Dichter ein, StatiusStatius, um dasselbe auf die eindringlichste Weise zu bekunden: auch in der Begegnung mit SordelloSordello und vielleicht auch in dem vielumstrittenen Vers über Guido CavalcantiCavalcanti, G. (Inf. 10, 63) klingt das gleiche Motiv an. Sodann ist VergilVergil als Dichter ein Führer, weil er über seine zeitliche Prophezeiung hinaus auch die ewige überzeitliche Ordnung, das Erscheinen Christi, das mit der Erneuerung der zeitlichen Welt zusammenfiel, in der vierten Ekloge verkündet hat – freilich ohne die Bedeutung seiner eigenen Worte zu ahnen, aber doch so, daß die Nachfolgenden sich an diesem Lichte entzünden konnten. Er war ferner als Dichter ein Führer, weil er das Totenreich beschrieben hatte – also ein Führer ins Totenreich, der den Weg kennt. Aber nicht nur als Dichter, auch als Römer und als Mensch war er zur Führung bestimmt; nicht nur die schöne Rede, nicht nur hohe Weisheit stehen ihm zu Gebot, sondern eben die Eigenschaften, die zur Führung befähigen, die seinen Helden Aeneas und Rom überhaupt auszeichnen: iustitiaiustitia und pietaspietas. Die Fülle der irdischen Vollkommenheit, die zur Führung befähigt und bestimmt, bis dicht an die Grenze der Einsicht in die göttliche und ewige Vollkommenheit, ist für DanteDante schon im geschichtlichen VergilVergil verkörpert, und dieser ist ihm eine figura für die nun im Jenseits erfüllte Gestalt des Dichter-Propheten als Führer. Der geschichtliche VergilVergil wird «erfüllt» von dem Bewohner des limbo, dem Genossen der großen antiken Dichter, der auf Beatrices Wunsch DantesDante Führung übernimmt. So wie er einst, als Römer und Dichter, Aeneas nach göttlichem Ratschluß in die Unterwelt steigen ließ, damit er das Schicksal der römischen Welt erfahre, so wie sein Werk zum Führer der Nachlebenden wurde, so wird er nun von den himmlischen Gewalten zu einer nicht minder bedeutenden Führung aufgerufen: denn es ist nicht zu bezweifeln, daß DanteDante sich selbst in einer Mission sieht, die ebenso bedeutend ist wie die des Aeneas: er ist berufen, der Welt, die aus den Fugen ist, die rechte Ordnung zu verkünden, die ihm auf seinem Wege offenbart wird. Und VergilVergil ist berufen, ihm die wahre irdische Ordnung, deren Gesetze im Jenseits vollstreckt, deren Wesen dort erfüllt ist, zu zeigen und zu deuten – zugleich mit der Richtung auf ihr Ziel, die himmlische Gemeinschaft der Glückseligen, die er in seiner Dichtung geahnt hat – aber doch nicht bis in das Innere des Gottesreiches hinein, denn der Sinn seiner Ahnung ist ihm während seines irdischen Lebens nicht offenbart worden, und er ist ohne solche Erleuchtung als ein Ungläubiger gestorben; und so will Gott nicht, daß man durch