Erich Auerbach

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie


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gewann es an neuer dramatisch-konkreter Aktualität. PaulusPaulus (Apostel) hat keine zusammenhängende Deutung des AT verfaßt, aber die wenigen Stellen über den Auszug aus Ägypten, Adam und Christus, Hagar und Sara usw. verraten zur Genüge, was er gemeint hat. Die Kämpfe der Folgezeit um das AT sorgten dafür, daß seine Auffassung und Deutung nicht unterging; zwar nahm der Einfluß der gesetzestreuen JudenchristenJudenchristentum bald ab, dafür erstarkte die Gegnerschaft von Seiten derer, die das AT entweder ganz ausschalten oder nur abstrakt allegorisch deuten wollten, wodurch der Zusammenhang der providentiellen Weltgeschichte, die innerwirkliche Konkretheit und damit wohl auch etwas von der großen und allgemeinen Überzeugungskraft dem Christentum hätte verlorengehen müssen. In diesem Kampfe gegen die Verächter und Entleerer des AT hat sich die realprophetischeRealprophetie Methode aufs neue bewährt und seiner Geltung eben im christlichen Verheißungssinne zum Siege verholfen.

      Dabei ist noch etwas anderes zu bedenken, was bei der späteren großen Ausbreitung des Christentums besonders im Westen und Norden der Mittelmeerländer von Bedeutung wurde. Das ATAltes Testament verwandelte sich, wie wir sagten, durch die FiguraldeutungFiguraldeutung aus einem Gesetzbuch und einer Volksgeschichte Israels in eine Reihe von Figuren Christi und der Erlösung, wie wir sie später in der Prophetenprozession des mittelalterlichen Theaters oder in den zyklischen Darstellungen der mittelalterlichen Plastik in West- und Mitteleuropa antreffen. In dieser Form und in diesem Zusammenhang, aus dem das Volksgeschichtliche und Volkstümliche des Jüdischen verschwunden war, konnten etwa die keltischen und germanischen Völker das AT aufnehmen; es war ein Bestandteil der allgemeinen Erlösungsreligion und ein notwendiges Stück in der ebenso großartigen wie einheitlichen Vision der Weltgeschichte, die man ihnen zugleich mit dieser Religion übermittelte. In seiner ursprünglichen Gestalt, als Gesetzbuch und Geschichte eines so fremden und fernen Volkes, wäre es ihnen unzugänglich geblieben. Dies ist freilich eine nachträgliche Erkenntnis, die wohl außerhalb des Gedankenbereichs der ersten Heidenapostel und KirchenväterKirchenväter liegt. Sie wurden auch nicht so bald auf das Problem gestoßen, da die ersten Heidenchristen zwischen den Juden der Diaspora lebten und sich, bei dem bedeutenden Einfluß derselben und der großen Aufnahmefähigkeit der damaligen hellenistischen Bevölkerung für religiöse Erfahrungen, längst mit jüdischer Geschichte und Religion vertraut gemacht hatten. Aber der Gesichtspunkt ist darum, weil man ihn nur rückschauend erkennen kann, nicht weniger wichtig. Das ATAltes Testament als jüdische Geschichte und jüdisches Gesetz ist im europäischen Christentum erst sehr spät, wohl erst nach der ReformationReformation, lebendig geworden; zunächst kam es als figura rerum oder Realprophetie, als Vorgeschichte Christi zu den neu bekehrten Völkern und vermittelte ihnen dadurch einen Grundbegriff der Weltgeschichte, der eben durch seine genaue Verknüpfung mit dem Glauben überaus eindringlich war und der fast ein Jahrtausend der einzig gültige blieb. Dadurch aber mußte die in der Figuraldeutung enthaltene Auffassungsweise zu einem der wichtigsten Aufbauelemente ihres Wirklichkeits- und Geschichtsbildes, ja ihrer Sinnlichkeit überhaupt werden. Diese Überlegung führt uns zu der zweiten der im Anfang des Kapitels gestellten Aufgaben, nämlich zu einer schärferen Bestimmung der Figuraldeutung und zu einer Abgrenzung derselben gegen andere verwandte Deutungsformen.

      Die FiguraldeutungFiguraldeutung stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere hingegen das eine einschließt oder erfüllt. Beide Pole der Figur sind zeitlich getrennt, liegen aber beide, als wirkliche Vorgänge oder Gestalten, innerhalb der Zeit; sie sind beide, wie schon mehrfach betont wurde, in dem fließenden Strom enthalten, welcher das geschichtliche Leben ist, und nur das Verständnis, der intellectus spiritualis, ist ein geistiger Akt; ein geistiger Akt, der sich bei jedem der beiden Pole mit dem gegebenen oder erhofften Material des vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Geschehens zu befassen hat, nicht mit Begriffen oder Abstraktionen; diese sind durchaus sekundär, da ja auch Verheißung und Erfüllung als wirkliche und innergeschichtliche Ereignisse teils in der Fleischwerdung des Wortes geschehen sind, teils in seiner Wiederkunft geschehen werden. Zwar mischen sich in die Vorstellungen von der endgültigen Erfüllung auch reine spirituale Elemente hinein, da ja «mein Reich nicht von dieser Welt ist»; aber es wird ebenfalls ein wirkliches Reich sein, kein abstrakt unsinnliches Gebilde; diese Welt wird nur als figura vergehen, nicht ihre naturanatura (vgl. oben S. 69), und das Fleisch wird auferstehen. Insofern nun die Figuraldeutung ein Ding für das andere setzt, indem eines das andere darstellt und bedeutet, gehört sie zu den allegorischenAllegorie Darstellungsformen im weitesten Sinne. Sie ist jedoch von den meisten anderen uns sonst bekannten allegorischen Formen durch die beiderseitige Innergeschichtlichkeit sowohl des bedeutenden wie des bedeuteten Dinges klar geschieden. Die große Mehrzahl der Allegorien, die man in der Literatur oder der bildenden Kunst antrifft, stellen etwa eine Tugend (z. B. die Weisheit) oder eine Leidenschaft (Eifersucht) oder eine Institution (Recht), allenfalls die allgemeinste Synthese einer geschichtlichen Erscheinung (den Frieden, das Vaterland) dar; niemals die volle Innergeschichtlichkeit eines bestimmten Vorgangs. Solcher Art sind die Allegorien der spätantik-mittelalterlichen Tradition, die etwa von PrudentiusPrudentius’ Pyschomachie36 bis Alanus de InsulisAlain de Lille und dem Roman de la Rose reicht. Ähnlich, oder wenn man will umgekehrt, verhält es sich mit den allegorischen Ausdeutungen innergeschichtlicher Vorgänge,37 da diese gewöhnlich als verborgene Darstellungen philosophischer Lehren gedeutet werden. Von dieser Art war die allegorischeAllegorie Methode, mit der die FiguraldeutungFiguraldeutung bei der Erklärung der Bibel in ständiger Konkurrenz blieb: die Methode Philos38 und der von ihm beeinflußten alexandrinischen Katechetenschule. Sie beruht auf einer damals schon sehr alten und weit verbreiteten Überlieferung. Schon lange hatten verschiedene philosophische Schulen sich in aufklärerischer Absicht der griechischen Mythen, insbesondere HomersHomer und HesiodsHesiod bemächtigt und sie als verhüllte Darstellung des jeweils eigenen physikalisch-kosmologischen Systems gedeutet; mehrere andere Einflüsse, die nicht mehr rein aufklärerisch, sondern ethisch, mystisch und metaphysisch waren, traten später hinzu; all die vielen spätantiken Sekten und Geheimlehren pflegten die allegorische Auslegung von Mythen, Zeichen und Texten, wobei das Physikalische und Kosmologische allmählich hinter dem Moralischen und Mystischen zurücktrat. PhiloPhilo selbst, der nach jüdischer Tradition seine Philosophie als Kommentar zur Heiligen Schrift aufbaute, deutet die einzelnen Ereignisse der Schrift als die verschiedenen Phasen des Zustandes der Seele und ihres Verhältnisses zur intelligiblen Welt; in den Schicksalen Israels im ganzen wie in denen der einzelnen Gestalten scheint ihm die Bewegung der sündigen, heilsbedürftigen Seele in Fall, Hoffnung und endlicher Erlösung allegorisch enthalten zu sein. Wie man sieht, ist dies eine rein spirituale und außergeschichtliche Deutung. Sie hatte in der Spätantike sehr großen Einfluß, schon weil sie selbst nur die wohl vornehmste Form einer gewaltigen spiritualistischen BewegungSpiritualismus ist, deren Mittelpunkt Alexandria war; nicht nur Texte und Ereignisse, sondern auch die unmittelbar erscheinende natürliche Welt, wie Sterne, Tiere, Steine wurden damals ihrer sinnlichen Wirklichkeit entkleidet und allegorischAllegorie, zuweilen auch ein wenig figural gedeutet. Die spiritualistisch-moralisch-allegorische Methode ist von der alexandrinischen Katechetenschule aufgenommen worden, sie hat besonders in OrigenesOrigenes einen bedeutenden Vertreter gefunden und ist, wie bekannt, ebenso wie die figurale vom MittelalterMittelalter fortgesetzt worden. Doch ist sie, trotz mancher Mischformen, von dieser scharf geschieden. Auch sie verwandelt das Alte TestamentAltes Testament; auch in ihr verlieren Gesetz und Geschichte Israels ihr nationales und volkstümliches Gepräge; aber an deren Stelle tritt ein mystisches oder ethisches Lehrgebäude, und der Text wird in einem weit höheren Maße sinnlich entkräftet und geschichtlich entleert. Diese Art der Auslegung hat lange ihren Platz behauptet, sie hat in der Lehre vom vierfachen Schriftsinn eine der vier Bedeutungen, die moralische, ganz und gar, und oft noch eine zweite, die analogische, bestimmt. Und doch glaube ich, ohne es freilich streng beweisen zu können, daß sie selbständig, d.h. ohne die Stütze der FiguraldeutungFiguraldeutung, kaum Einfluß auf die neubekehrten Völker gewonnen hätte. Ihre Wirkung behält stets etwas Gelehrtes und Mittelbares, ja Abstruses, wenn nicht zuweilen ein einzelner bedeutender MystikerMystik sie mit Kraft erfüllt. Nach ihrer Herkunft und ihrem Wesen ist sie auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis geistiger und eingeweihter Personen beschränkt; nur diese allein können an ihr Gefallen und in ihr Nahrung finden. Die figurale Realprophetie hingegen, mit Notwendigkeit aus einer bestimmten geschichtlichen Lage, nämlich der