Marianne Franz

Die katholische Kirche im Pressediskurs


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d.h. „von der Gesamtheit aller Individuen gemacht“ (Jäger 2009: 148). Jäger definiert sie als „Verläufe oder Flüsse von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ (2009: 158), als „strukturiert“ und „geregelt“, „konventionalisiert bzw. sozial verfestigt“ (2009: 129). Das über Diskurse transportierte Wissen gilt als richtig und wahr, wobei Wahrheit nicht „diskurs-extern vorgegeben“, sondern ein „diskursiver Effekt“ ist bzw. „historisch-diskursiv erzeugt“ (2009: 129). Diskurse spiegeln „gesellschaftliche Wirklichkeit nicht einfach [wider], sondern [sie führen] gegenüber der Wirklichkeit ein ‚Eigenleben‘ […], obwohl sie Wirklichkeit prägen und gestalten, ja gesellschaftliche Wirklichkeit zuerst ermöglichen“. Anders gesagt: Diskurse sind „vollgültige Materialitäten“ (2006: 87).

      „Diskurse üben Macht aus, da sie Wissen transportieren, das kollektives und individuelles Bewußtsein speist. Dieses zustande kommende Wissen ist die Grundlage für individuelles und kollektives Handeln und die Gestaltung von Wirklichkeit.“ (Jäger 2006: 89)

      Die verschiedenen Diskurse eines gesellschaftlichen Gesamtdiskurses sind miteinander vernetzt und bilden ein „diskursives Gewimmel“, das die DiskursanalyseDiskursanalyse unter anderem mithilfe verschiedener Analysekategorien zu entflechten versucht (Jäger/Zimmermann 2010: 15f.):

       Spezialdiskurs: Wissenschaftsdiskurs – im Gegensatz zum Interdiskurs (alle nichtwissenschaftlichen Diskurse) (vgl. Jäger 2009: 159);Diskursfragment

       Diskursfragment: Text(-teil) zu einem bestimmten Thema (vgl. Jäger 2009: 159); in dieser Arbeit z.B. ein Artikel zum Thema „katholische Kirche“ oder genauer zum Thema „Afrikareise des Papstes“;

       Diskursstrang:Diskursstrang gebildet aus mehreren Diskursfragmenten zum selben Thema; in dieser Arbeit werden mehrere Diskursstränge behandelt: z.B. Diskursstrang über die Aufhebung der Exkommunikation der Pius-Bruderschaft, über die Afrikareise des Papstes, über den Kindesmissbrauch durch Kirchenvertreter; Diskursstränge sind miteinander verschränkt, d.h. sie beeinflussen und stützen sich gegenseitig; das gilt für alle Diskursstränge (auch thematisch nicht verwandte) (vgl. Jäger 2009: 160f.); alle Diskursstränge einer Gesellschaft ergeben zusammen den gesamtgesellschaftlichen Diskurs (vgl. Jäger 2009: 166);

       Diskursives Ereignis: Ereignisse, „die medial groß herausgestellt werden und als solche […] die Richtung und die Qualität des DiskursstrangsDiskursstrang, zu dem sie gehören, mehr oder minder stark beeinflussen“; es wird sich zeigen, ob in der vorliegenden Untersuchung diskursive EreignisseDiskursives Ereignis festzustellen sind;

       Diskursebene:Diskursebene soziale Orte, von denen aus gesprochen wird, wie Wissenschaft, Politik, Medien, Alltag usw. (vgl. Jäger 2009: 163); in dieser Arbeit wird die Diskursebene der Medien, genauer: der Tageszeitungen untersucht;

       Diskursposition:Diskursposition „spezifischer politischer Standort einer Person oder eines Mediums“ (vgl. Jäger 2009: 164).

      Nach Jäger ist das „allgemeine Ziel der DiskursanalyseDiskursanalyse“, „ganze Diskursstränge (und/oder Verschränkungen mehrerer Diskursstränge) historisch und gegenwartsbezogen zu analysieren und zu kritisieren“. Da es aufgrund des Umfangs eines DiskursstrangsDiskursstrang und des damit verbundenen hohen Arbeitsaufwandes unmöglich ist, alle Diskursfragmente genau zu untersuchen, rät Jäger zu einer Zweigliederung der Analyse. Nach einer groberen Struktur- bzw. Überblicksanalyse eines Diskursstrangs wird eine Feinanalyse eines typischen Diskursfragments daraus vorgenommen (vgl. Jäger 2009: 192f.). Die Überblicksanalyse besteht im Wesentlichen in der (1) Ermittlung des diskursiven Kontextes, (2) in der allgemeinen Charakterisierung der Zeitung, der die Diskursfragmente entnommen sind und (3) in der Aufschlüsselung der Diskursfragmente bzw. Artikel nach Themen und TextsortenPressetextsorten sowie in der Ermittlung der DiskurspositionDiskursposition der Zeitung in Hinblick auf die jeweilige Thematik (vgl. Jäger 2009: 195f.). Für die Feinanalyse sollen typische Artikel mithilfe bestimmter Kriterien ausgewählt werden. So sollen die typischen Artikel z.B. die Diskursposition der Zeitung enthalten, dem thematischen Schwerpunkt der Zeitung hinsichtlich des betroffenen Diskursstrangs, dem Berichtstil und den formalen Besonderheiten der Darstellung entsprechen (Genaueres siehe Jäger 2009: 193). Die Feinanalyse selbst besteht aus folgenden Analyseschritten:

      1. „Institutioneller Rahmen: Jedes Diskursfragment steht in einem institutionellen Kontext. Dazu gehören MediumMedium, Rubrik, Autor, eventuelle Ereignisse, denen sich das Fragment zuordnen läßt, bestimmte Anlässe für den betreffenden Artikel etc.

      2. Text-‚Oberfläche‘: Graphische Gestaltung (Photos, Graphiken, Überschriften, Zwischenüberschriften), Sinneinheiten (wobei die graphischen Markierungen einen ersten Anhaltspunkt bieten [sic!], angesprochene Themen.

      3. Sprachlich-rhetorische Mittel (sprachliche Mikro-Analyse: z.B. Argumentationsstrategien, Logik und Komposition, Implikate und Anspielungen, Kollektivsymbolik/Bildlichkeit, Redewendungen und Sprichwörter, Wortschatz, Stil, Akteure, Referenzbezüge etc).

      Inhaltlich-ideologische Aussagen: Menschenbild, Gesellschaftsverständnis, Technikverständnis, Zukunftsvorstellung u.ä.

      4. Interpretation: Nach den unter 1. bis 4. aufgeführten Vorarbeiten kann die systematische Darstellung (Analyse und Interpretation) des gewählten Diskursfragments erfolgen, wobei die verschiedenen Elemente der Materialaufbereitung aufeinander bezogen werden müssen.“ (Jäger 2009: 175; in Originalrechtschreibung)3

      Auf der Basis der Struktur- und Feinanalyse wird abschließend eine Gesamtinterpretation des Diskursstranges vorgenommen (vgl. Jäger 2009: 193).

      Jäger hat seine Vorgehensweise in zahlreichen Veröffentlichungen immer wieder sehr transparent, leser- und benutzerfreundlich erörtert. Wenn die gewählte Untersuchungsmethode der vorliegenden Arbeit Jägers Kritischer Diskursanalyse auch nicht 1:1 folgt, so ist sie dennoch wesentlich von ihr beeinflusst. Jägers Analyseraster wird mit einigen Anpassungen übernommen (siehe Abschnitt 13.2).

      Obwohl ich mir bewusst bin, dass diese Methode aufgrund ihrer politischen Ausrichtung, aber auch aufgrund der Beachtung der Textinhalte innerhalb der Linguistik umstritten ist und Jäger sie selbst (vielleicht auch deshalb) nicht als sprachwissenschaftliche Methode im eigentlichen Sinn deklariert, hat mich vor allem ihr Analyseverfahren überzeugt. Der Aufbau der einführenden Kapitel zeigt bereits, dass auch die vorliegende Arbeit keine puristisch linguistische ist. In Abschnitt 2 war die Rede davon, dass heute die wissenschaftlichen Fachgrenzen verschwimmen, weil von den Gegenständen, von der Forschungsfrage ausgehend transdisziplinäre Methoden entwickelt werden müssen. Meine Forschungsfrage macht es notwendig, aus verschiedensten Forschungstraditionen und Wissenschaftsdisziplinen zu schöpfen, um ihr gerecht werden zu können. Nichtsdestoweniger erhebt die Arbeit den Anspruch medienlinguistisch zu sein, da der Schwerpunkt der vorgenommenen Analyse auf dem Sprachgebrauch in den Medien liegt. Ich kann daher gut mit Jäger sympathisieren, der, selbst Sprachwissenschaftler, mit seiner entwickelten Methode über die „Grenzen der Disziplin der Linguistik“ hinausgeht, indem er sie mit verschiedenen sozialwissenschaftlichen Theorien und Instrumenten verbindet (Jäger 2009: 158). Das Ziel meiner Arbeit liegt zwar nicht in einer politischen Gesellschaftskritik, die sich darin zeigt, „Vorschläge zur Vermeidung herrschender Missstände zu entwickeln“, wofür Jäger die Kritische DiskursanalyseDiskursanalyse in der Lage sieht (vgl. Jäger/Zimmermann 2010: 22). Dennoch steht sie medialen Prozessen durchaus kritisch gegenüber, was sich bereits an den Hypothesen ablesen lässt. Gardt (2007), der die Ursache der KontroverseKontroverse zwischen Kritischer Diskursanalyse und Diskurslinguistik in der Dichotomie der erklärenden und der beschreibenden Sprachwissenschaft (nach Chomsky) sieht, befürchtet, dass die linguistische Diskursanalyse „zu einer bloßen Hilfswissenschaft für andere Disziplinen“ wird, wenn die Sprache nicht der eigentliche Untersuchungsgegenstand ist. Die Lösung besteht nach Gardt im Verständnis der Diskursanalyse als Sprachkritik, da sie dadurch ihre „linguistische Identität“ wahren könne (2007: 40f.).

      „Eine Aufwertung einer linguistisch fundierten Sprachkritik zu einem integralen Bestandteil der Sprachwissenschaft wird in jüngster Zeit ohnehin gefordert. Wenn Sprachwissenschaftler durch das kritische Kommentieren öffentlichen Sprachgebrauchs tatsächlich stärker in