Definition von Mehrsprachigkeit auf der Grundlage von Sprachkompetenz wurde von Forschern und Forscherinnen innerhalb eines breiten Spektrums angelegt, das von der ausreichend effizienten Nutzung einer zweiten oder fremden Sprache, um in Alltagssituationen zurechtzukommen (zum Beispiel als Touristen oder Touristinnen in einem fremden Land), bis hin zur muttersprachenähnlichen Kompetenz in einer Fremdsprache reicht. Die Definition von Bloomfield (oder ein Teil davon) konzentriert sich auf die „muttersprachenähnliche Beherrschung von zwei oder mehreren Sprachen“ (Beardsmore 1986: 1). Maximilian Braun legte sie ebenfalls als „aktive vollendete Gleichbeherrschung zweier oder mehrerer Sprachen […] fest, ohne Rücksicht darauf, wie sie erworben ist.“ (Braun 1937: 115). De Bot und Sinfree definieren Mehrsprachigkeit als „bis zu einem gewissen Grad in mehr als einer Sprache bewandert zu sein“ (2005: 3). Der erste Fall tritt selten ein, ist aber möglich: Viele Menschen in Hauptstädten der sowjetischen Staaten beherrschten die russische Sprache und ihre Muttersprache in genau gleichem Maße. Wir nennen das ausbalancierte Zweisprachigkeitausbalancierte Zweisprachigkeit, im Gegensatz zur dominanten Zweisprachigkeitdominante Zweisprachigkeit, bei der eine der Sprachen stärker als die anderen vertreten ist. Cook & Singleton schlagen eine Definition für das gesamte Kontinuum vor, das die Spanne zwischen minimaler und maximaler Zweisprachigkeit umfasst (2014: 3).
Funktionale Definitionen von Mehrsprachigkeit fokussieren darauf, dass zwei oder mehr Sprachen in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten eingesetzt und in unterschiedlichen Maßen beherrscht werden. Diese alternative Betrachtung, die auf Sprachverwendung anstelle von Sprachkompetenz basiert, deutet auf eine eher sozio-funktionale Ausprägung und auf die postmodernen Bemühungen linguistische Phänomene zu interpretieren hin. Die Definition von William Mackey, der Mehrsprachigkeit als ein Merkmal von Sprachverwendung bezeichnete, ist in dieser Hinsicht anschaulich:
It seems obvious that if we are to study the phenomenon of bilingualism we are forced to consider it as something entirely relative. […] We shall therefore consider bilingualism as the alternate use of two or more languages by the same individual. (Mackey 1957: 51 zitiert nach Beardsmore 1986: 1)
Weinreich bezeichnete Zweisprachigkeit ebenfalls als „das Einüben der alternativen Nutzung zweier Sprachen“ (Weinreich 1953: 1). Blommaert (2010: 103ff) führt das Konzept der unausgeglichenen Mehrsprachigkeit (truncated multilingualismUnausgeglichene Mehrsprachigkeit (truncated multilingualism)) ein, das die Sprachen im Repertoire eines Sprechers oder einer Sprecherin nach der jeweiligen Kompetenzstufe, dem Verwendungsgebiet, der Beherrschung unterschiedlicher Varietäten, und so weiter anordnet.
Die Definition der Mehrsprachigkeit auf der Grundlage von Sprecher- und Sprecherinnenhaltungen setzt den Schwerpunkt auf die Einstellung des Sprechers oder der Sprecherin selbst hinsichtlich der Frage, wie sehr er oder sie sich mit den unterschiedlichen Sprachen identifiziert, ob von sich selbst gesagt wird, dass mehrere Sprachen beherrscht werden, und wie die eigene Sprachkompetenz aufgefasst wird, im Gegensatz zu der Beurteilung durch andere Personen (vergleiche Skutnabb-Kangas 1981: 88ff). Auf der Grundlage der Sprecher- oder Sprecherinnenhaltung ist es möglich, sich der Frage auch aus der Perspektive anzunähern, wie diese Haltung die Sprachwahl beeinflusst. Hier wird das Phänomen der Mehrsprachigkeit in seiner Dynamik betrachtet, anstatt es zu einem bestimmten Zeitpunkt darzustellen. Die Haltung des Sprechers beziehungsweise der Sprecherin (oder der Sprachgemeinschaft) spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie viel Platz einer zweiten Sprache eingeräumt wird (sicherlich zumeist primär aufgrund externer Bedingungen). Der Sprecher oder die Sprecherin hält die Zweitsprache entweder davon ab, den Platz der Erstsprache einzunehmen (additive Zweisprachigkeitadditive Zweisprachigkeit), oder lässt für die zweite Sprache mehr Raum zu (subtraktive ZweisprachigkeitSubtraktive Zweisprachigkeit). Chin und Wigglesworth (2007: 14) schlagen vor, ihr Prinzip der sozialen Orientierung zu verwenden, um zwischen additiver und subtraktiver Zweisprachigkeit zu unterscheiden und liefern ein breites Spektrum an Gründen, welche beide Alternativen bedingen. In der subtraktiven Zweisprachigkeit würden wir auf einen Fall treffen, in dem der Sprecher beziehungsweise die Sprecherin die zweite Sprache flüssiger spricht, was möglicherweise zu einem Wechsel von der ersten zur zweiten Sprache führen könnte. Menschen mit subtraktiver Zweisprachigkeit könnten deshalb – im Verlauf von mehreren Generationen – als potenziell monolingual betrachtet werden. Das ist nicht dasselbe wie dominante Zweisprachigkeit (obwohl diese beiden Formen der Zweisprachigkeit theoretisch ein Kontinuum der graduellen Verschiebung von Monolingualismus in der L1 über die Zweisprachigkeit hin zum Monolingualismus in der L2 abbilden könnten). Ein Fallbeispiel für dominante Zweisprachigkeit wären Menschen, die in der L1 flüssig sind und eine niedrigere Kompetenzstufe in einer L2 erreicht haben. Dies geht nicht mit einem erhöhten Risiko einher, wiederum Einsprachigkeit mit der später erlernten L2 zu entwickeln, solange diese im Sprecherrepertoire an zweiter Stelle steht.
Es gibt noch eine andere Möglichkeit, Mehrsprachigkeit zu betrachten und zwar vom Verhalten der Sprecher oder Sprecherinnen ausgehend. Verhaltensbasierte Definitionen betrachten Sprecher und Sprecherinnen entweder als Sprachmixer oder als Sprachpuristen. Der Erwerb einer L2 kann das Gefühl einer nationalen Identität bei manchen Menschen oder Gruppen verstärken (insbesondere, wenn der Erwerb politisch motiviert oder erzwungen ist oder anderweitig als Bedrohung der L1 empfunden wird). Dies führt in der Folge zu puristischem Verhalten als Schutzmaßnahme gegen das Eindringen des Fremden. Für einige Menschen oder Gruppen stellt jedoch das Vermischen von Sprachen (insbesondere das Vermischen der Muttersprache mit einer höhergestellten Sprache) eine normale Verhaltensweise dar und wird positiv gewertet. Zum Beispiel ist es unter jungen Menschen aus Aserbaidschan, die in der Türkei, in der EU oder in den USA studiert haben, üblich, Aserbaidschanisch mit Englisch oder Türkisch zu vermischen. Im gesamten post-sowjetischen Raum verwenden die älteren, in den Hauptstädten lebenden Generationen immer noch eine Mischung aus ihrer Muttersprache und dem Russischen, um den Ausdruck ihrer Identität angesichts der zunehmenden Einwanderungen aus ländlichen Gebieten aufzuwerten.
1.2.5 Mehrsprachigkeit und Kommunikation historisch betrachtet
Die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven auf das Phänomen der Mehrsprachigkeit hilft dabei, ihre kommunikativen Aspekte besser zu verstehen, denn Mehrsprachigkeit entsteht eigentlich durch Sprachenkontakt. Wie Sie sich vorstellen können, wird eine Person zunächst mehrsprachig, weil sie einen bestehenden Kommunikationsbedarf erfüllen muss. Der Kommunikation liegen wiederum unterschiedliche Motive zugrunde. Sie dient zur Erfüllung bestimmter Funktionen und wird nur dann möglich, wenn die notwendige Kompetenz dafür vorhanden ist. Wie wir gesehen haben, sind die Aspekte, die zur Bestimmung von Mehrsprachigkeit herangezogen werden, die gleichen wie die, die zur Charakterisierung des Kommunikationsprozesses verwendet werden können:
1 Kompetenz (wenigstens ein Mindestmaß davon) als essenzielle Voraussetzung dafür, Kommunikation einzuleiten und durchzuführen;
2 Funktion, da Kommunikation immer zielgerichtet ist und
3 Verhalten, das den Kommunikationsakt letztendlich ausmacht.
Das führt mit sich, dass die Betrachtung von Mehrsprachigkeit auch die Erforschung von Kommunikation aus soziolinguistischer Perspektive umfasst.
Braunmuller und Ferraresi (2003: 2) liefern eine breitangelegte historische Darstellung mehrsprachiger Verhaltensmuster in Europa. Sie behaupten, dass Mehrsprachigkeit vor der Herausbildung der Nationalstaaten in Europa, die die Auffassung „ein Staat – eine Nation – eine Sprache“ zur Folge hatte, als Normalfall empfunden wurde und dass „die Verwendung von anderen Sprachen außer jener der Mehrzahl der Einwohner keinesfalls etwas Besonderes für die Mittel- und Oberschichten Europas in den Jahrhunderten vor 1800 war“.
Als ein Ergebnis von Sprachenkontakt war Mehrsprachigkeit immer schon eine notwendige Voraussetzung für Handel und andere Arten von Kontakten außerhalb der eigenen Gemeinschaften. Die Mitglieder der Mittel- und Oberschicht vor 1800 mussten zum Beispiel die kaiserliche Lingua Franca beherrschen, oder die Sprachen der jeweils anderen, um innerhalb großer Kaiserreiche arbeiten zu können. Vor der Entstehung von Nationalstaaten und der Entwicklung von Diskursen