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Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb


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      Der verstärkte Ruf nach Demokratisierung in den vergangenen Jahrzehnten hat die Frage nach den Minderheiten höchst dringlich werden lassen. Respekt und Akzeptanz von Minderheitensprachen waren und sind einige der Anforderungen, die internationale Institutionen sowohl an neue Staaten, als auch an jene mit einer längeren Nationalstaatsgeschichte stellen. Die Reaktionen der unterschiedlichen Staaten fallen ungleich aus, aber insgesamt ist die Tendenz dahin gegangen, ein neues Grundgerüst für die Gesetzgebung und die Umsetzung zu schaffen, das zwar den unterschiedlichen Sprachen nicht immer den gleichen Status, aber immerhin eine wesentliche Funktion einräumt.

      1.3.4 Sprachenpolitik und Mehrsprachigkeit: historische Meilensteine

      Obwohl die gesellschaftliche und staatliche Befürwortung von Mehrsprachigkeit insgesamt einen Meilenstein in den vergangenen Jahrzehnten darstellt, hat der Umgang mit Minderheitensprachen innerhalb politscher und rechtlicher Systeme bereits eine längere Geschichte. Schon früh sind die Angelegenheiten der Minderheiten Diskussionsthemen internationaler Versammlungen, wie auf dem Wiener (1814) und auf dem Berliner Kongress (1878) sowie während der Pariser Friedenskonferenz (1919). In Russland, Österreich und Preußen werden beispielsweise 1815 die Rechte der polnischen Minderheiten, die zu diesem Zeitpunkt in diesen Staaten leben, anerkannt. Im Rahmen des Berliner Abkommens von 1876 verpflichten sich die Balkanstaaten dazu, das Leben und die Freiheit ihrer Minderheiten zu respektieren. Gemäß dem Abkommen von 1881 wird Muslimen in Griechenland Religions- und Sprachenfreiheit gewährt (Castellino 2000: 49ff). Im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg, müssen die Staaten, die Mitglied des Bundes werden wollen, Verträge, die eine neue Phase für den Schutz der Minderheitenrechte einläuten, einschließlich des Rechtes auf Verwendung der Erstsprache, unterzeichnen.

      Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein weiterer wichtiger Abschnitt in der Entwicklung internationaler Instrumente zum Schutz der Minderheiten, die in diesen Staaten leben. Das Verbot der Diskriminierung auf Basis einer Sprache ist Bestandteil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN 1948). Auch die Konvention der UNESCO gegen Diskriminierung im Jahr 1960 (UNESCO 1960) räumt den Minderheitensprachen Platz ein und schreibt vor, dass Kinder aus Minderheitengruppen in ihren eigenen Sprachen unter der Bedingung unterrichtet werden dürfen, dass sie dies nicht davon abhält, die Mehrheitssprache und die Kultur zu erlernen und kennenzulernen. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt 1966) beinhaltet eine spezifische Verfügung, die voraussetzt, dass Vertretern einer Minderheit ein Dolmetscher beziehungsweise eine Dolmetscherin ihrer eigenen Sprache zur Verfügung gestellt werden soll, falls sie wegen irgendeiner Sache gesetzlich belangt werden sollten.

      Die nächste wichtige Phase der Wiederaufnahme und Verbesserung des internationalen Engagements gegenüber den Rechten von Minderheiten wurde in den 1990er Jahren eingeläutet, als das sowjetische Reich kollabiert und sich neue Staaten auf dem Territorium des einstigen Reiches herausbilden. Akademische Bemühungen zur Wiederbelebung von Sprachen, zur Umkehr des Sprachwechsels und zur Rettung von Sprachen vor dem Verfall hatten bereits den Höhepunkt erreicht. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen warben aktiv für die linguistic human rights und für die Sprachenvielfalt. Das Bewusstsein für bedrohte Sprachen auf der ganzen Welt stieg an und es wurde ernsthaft an die Regierungen appelliert, die sprachenpolitischen Richtlinien und Mechanismen zum Schutz der Minderheitensprachen zu verbessern (vergleiche Simons & Lewis 2013: 3).

      In dieser Zeit entstehen mehrere grundlegende internationale Dokumente: Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (1992), das Rahmenübereinkommen zum Schutz Nationaler Minderheiten (1995), die Kopenhagener Dokumente (1990) sowie die Charta der Grundrechte (2000). All diese Dokumente tragen zur Bewahrung der Minderheitensprachen bei und schützen vor der Diskriminierung aufgrund sprachlicher Unterschiede. Die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen wird aufgesetzt, um einheimische Sprachen zu schützen, die traditionsgemäß in den Staatsgebieten gesprochen werden. Die Charta spricht mehrere mit diesen Sprachen verbundene Probleme an, einschließlich der grundsätzlichen Sprachenrechte, Sprachen im Bildungswesen, Sprachenverwendung in den Medien und in kulturellen Bereichen sowie Sprachen als kulturelles Erbe.

      1.3.5 Mehrsprachigkeit als ein „Muss“ in der modernen Sprachenpolitik: Was haben die Sprachen und ihre Sprecher und Sprecherinnen davon?

      Wenn sprachenpolitische Richtlinien bewertet werden, sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Erstens versteht man unter einer mehrsprachigen politischen Richtung, dass ein Staat den Minderheitensprachen einen gewissen Platz einräumt. Zweitens werden die Richtlinien aus der Perspektive beurteilt, ob sie wirksame Instrumente zum Schutz der Sprachenvielfalt bieten, ob sie dem SprachenerhaltSprachenerhalt beitragen und ob sie ausgestorbene oder im Verfall begriffene Sprachen vor dem Sprachentod bewahren können beziehungsweise wiederbeleben können. Dabei handelt es sich um einen traditionellen Ansatz, der Mehrsprachigkeit in der Sprachenpolitik mit Fragen nach den Menschenrechten, der Menschenwürde und dem kulturellen Erbe verbindet. Dieser Ansatz hat Entscheidungsträger in der Sprachenpolitik dazu ermutigt, sich mit den unterschiedlichen Dimensionen von Mehrsprachigkeit aus Perspektiven wie ‚Sprache als Menschenrecht‘, ‚Sprache als ein Mittel zum Ausdruck der nationalen Identität‘, ‚Sprache als kulturelles Kapital‘, ‚Sprache und ihr Wert aus wirtschaftlicher Perspektive‘ sowie ‚die ökologische Stellung der Sprache in einem Ökosystem‘ auseinanderzusetzen. Diese Betrachtungsweise lässt, sowohl im politischen als auch im akademischen Diskurs, neue Bezugspunkte zum Vorschein treten. Zum Beispiel reichen die Argumente zur Verfechtung der Mehrsprachigkeit nun vom Erhalt der Menschenwürde bis hin zur Rolle der Sprache in der wirtschaftlichen Stellung der Einzelnen. Der Diskurs zu Sprache als ein grundlegendes Menschenrecht überlagert nun den abstrakteren Diskurs zur Rolle der Sprache in der politischen oder sozialen Integration. Ein allgemeineres Verständnis der Sprache als ein Symbol der nationalen Identität wird von einer konkreteren und greifbareren Auffassung von Sprache als Ausdruck der persönlichen beziehungsweise gruppenbezogenen Identität ersetzt. Diese Betrachtungsweise lässt andere Perspektiven zu: ‚Sprache als Teil eines Wertesystems‘, ‚Sprache als kulturelles Erbe und als Träger indigenen Wissens‘ und ‚Sprache als ein Schlüsselfaktor in der persönlichen Entwicklung‘. Die Entwicklung der ÖkolinguistikÖkolinguistik als ein neues Feld in der Soziolinguistik hat für weitaus mehr Aufmerksamkeit für den Stellenwert von Sprache im gesamten Ökosystem gesorgt.

      Warum machen sich Wissenschaftler beziehungsweise Wissenschaftlerinnen und Entscheidungsträger beziehungsweise Entscheidungsträgerinnen in der Politik Sorgen um den Fortbestand einer mehrsprachigen Welt und ihrer Förderung durch Sprachenpolitik, insbesondere da Sprachen (und kulturelle Gruppen) seit dem ersten Erscheinen unserer menschlichen Vorfahren kommen und gehen (siehe Ricento 2006: 232)? Erstens gibt das Schicksal der Sprachen Linguisten und Linguistinnen Grund zur Sorge, da Sprache ihr direktes Forschungsfeld darstellt. Zweitens geht es beim Verfall und beim Verlust von Sprachen nicht nur um die Sprachen an sich, sondern auch um Kulturen, kulturelles Erbe und um indigenes Wissen. Wenn eine Sprache stirbt, dann reißt sie eine gesamte Kultur und ein reichhaltiges Depot indigenen Wissens mit wertvollen Informationen über lokale Gesellschaften mit sich. Mit dem Verlust einer Sprache bricht auch die Weitergabe traditionellen Wissens und sozialer Werte an die nächsten Generationen ab. Und die Aussichten sehen nicht gerade rosig aus. Wie Krauss (2007: 2) feststellt, liegt die Anzahl der Sprachen, deren Erhalt als gesichert bezeichnet werden kann, bei etwa 300, was circa 5 % aller existierenden Sprachen entspricht.

      Das Scheitern des Schutzes der Sprachenvielfalt führt zum Verlust vieler Sprachen, was in direkter Verbindung zur Problematik der Menschenrechte steht. Normalerweise handelt es sich bei den rückläufigen Sprachen um solche, die von Minderheiten gesprochen werden. Die Sprachen von Mehrheiten sind besser durch sprachenpolitische oder andere politische Richtlinien geschützt und deshalb genießen Sprecher und Sprecherinnen von Mehrheitssprachen weitaus mehr Vorteile als jene der Minderheitensprachen, sei es in der Politik, in der Bildung, in der Wirtschaft oder in soziokulturellen Bereichen. Aus dieser Perspektive wird der Schutz von Mehrsprachigkeit zu einer Frage des Beschützens von Minderheitensprachen und kulturellem Erbe.

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