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Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb


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Sprachen war daher in unterschiedlichen Bereichen der Normalfall. Im mittelalterlichen England wurde Latein beispielsweise als die Sprache der Kirche und der gesetzlichen Verwaltung verwendet, wobei letzteres auch vom Angelsächsischen abgedeckt wurde und anglonormannisches Französisch als Schrift- und Literatursprache verwendet wurde. Die deutsche Oberschicht verwendete andererseits vor Mitte des 18. Jahrhunderts Französisch als die Sprache der Kultur und der Bildung, und in der dänischen Marine wurde bis 1773 Deutsch gesprochen (vergleiche Braunmuller & Ferraresi 2003: 2).

      Dennoch hat sich die Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit seit dem 19. Jahrhundert bis heute gewandelt, zumindest in der Auffassung von Sprechern und Sprecherinnen höhergestellter Sprachen. Wir neigen nicht dazu, insgesamt verallgemeinernd über den aktuellen Status der Mehrsprachigkeit im globalen Sinne zu sprechen. Wie David Crystal (1997: 362) anmerkt, ist „Mehrsprachigkeit […] die natürliche Lebensform für hunderte Millionen überall auf der Welt“. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass Gemeinschaften in kleineren und industriell weniger entwickelten Ländern üblicherweise zwei oder mehrere Sprachen sprechen und Einsprachigkeit in vielen weiterentwickelten, insbesondere westlichen Ländern zu finden ist, in denen die Mehrheitssprache eine der weltweit am weitesten verbreiteten Sprachen ist. Für die Angehörigen der letzteren Gruppe gilt, dass sie immer noch die Einsprachigkeit als Normalzustand wahrnimmt und Mehrsprachigkeit als Spezialfall betrachtet wird.

      Die Einstellung gegenüber Mehrsprachigkeit ist heutzutage, dank vieler politischer Bemühungen, meist positiv. Wir sprechen heutzutage vermehrt davon, dass Mehrsprachigkeit als Potenzial und Bereicherung anzusehen ist. Vermutlich ist die Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit aber überall auf der Welt unterschiedlich. Wie wir in Lerneinheit 1.3 sehen werden, führen manche politischen Richtlinien auch dazu, Mehrsprachigkeit eher als Problem zu betrachten und manchmal werden Minderheitensprachen als Störfaktoren für die „Supersprachen“ gehalten. Die unterschiedlichen Meinungen gehen von der Auffassung aus, dass nur eine Sprache (insbesondere Englisch) die Sprache für offizielle Angelegenheiten sein sollte, bis hin zur Vorgabe für alle europäischen Bürger zwei Fremdsprachen zu lernen. Trotzdem scheint Mehrsprachigkeit im politischen und soziolinguistischen Diskurs eine größere Gewichtung zu bekommen, da sie, ob es uns gefällt oder nicht, mit fundamentalen Werten wie den Menschenrechten, linguistischer und kultureller Diversität und dem Spracherhalt verbunden ist.

      1.2.6 Mehrsprachigkeit und Sprachwandel

      In Sprachenkontaktsituationen wirken die in Kontakt befindlichen Sprachen selbstverständlich einen gegenseitigen Einfluss aus. Mehrsprachigkeit beeinflusst nicht nur das Sprachverhalten von Menschen als Individuen oder Gruppen beziehungsweise Bürger und Bürgerinnen, sondern auch die Sprachen selbst. Im Sprachenkontakt gehen von Mehrheits- und Minderheitensprachen unterschiedliche Impulse aus. Sprecher und Sprecherinnen von Minderheitensprachen werden den Einfluss auf ihre Sprache eventuell eher zulassen als es Sprecher und Sprecherinnen von offiziellen, standardisierten oder Nationalsprachen tun würden. Weinreichs Beobachtung des Sprachenkontakts im deutsch-, französischsprachigen Teil der Schweiz ist dahingehend interessant:

      Die Erkenntnis, dass die eigene Muttersprache keine standardisierte Sprache ist, die in allen Situationen der formalisierten Kommunikation angewandt werden kann (staatliche Aktivitäten, Literatur, Radio, Schule, und so weiter) sorgt oftmals dafür, dass die Sprecher anderen Einflüssen gegenüber gleichgültig eingestellt sind. In der Schweiz ist die funktionale ‚Unterlegenheit‘ des Schwyzerdütsch (eine überwiegend gesprochene Sprache) im Vergleich zum Französischen – eine Sprache mit uneingeschränkten Funktionen – so tief im Bewusstsein vieler Sprecher verankert, dass der Ablauf, Wörter aus dem Französischen für das Schwyzerdütsch zu borgen, in Grenzgebieten als so natürlich wahrgenommen wird, wie die Unwirtlichkeit des Französischen, Lehnwörter aus dem Schwyzerdütsch zu übernehmen. (Weinreich 1953: 88)

      Von der dialektalen Varietät können solche Entlehnungen dann auch in die Standardsprache übernommen werden. Das gilt im schweizerischen Standarddeutschen zum Beispiel für Wörter wie Velo (‚Fahrrad‘), Perron (‚Bahnsteig‘) oder pressieren (‚es eilig haben‘).

      1.2.7 Globalisierte Mehrsprachigkeit

      Es wird behauptet, dass die Globalisierung sowie die neuen Kommunikationstechnologien zur Mehrsprachigkeit beitragen. Globalisierung, die Kommunikation sprach- und kulturübergreifend erleichtert und bedingt, fördert den Sprachenkontakt, der wiederum darin resultiert, dass die Anzahl der Mehrsprachigen in vielen Teilen der Welt jene der Monolingualen übertrifft.

      Die Internationalisierung ermutigt auch politische Ansätze zur Förderung von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit. Viele weitere Sprachen werden in unterschiedlichen Funktionsbereichen mit eingeschlossen, so zum Beispiel in der Bildung, in Angestelltenverhältnissen, in den Medien etc. Die Kenntnis von mehr als einer Sprache ist in vielen Unternehmen weltweit zu einer Einstellungsvoraussetzung geworden. In vielen Ländern setzt der Arbeitsmarkt voraus, dass die Bewerber und Bewerberinnen Kenntnisse in der Lokalsprache und in einer internationalen Sprache vorweisen können; Personalchefs und -chefinnen schätzen ebenfalls die Beherrschung der lokalen oder regionalen Verkehrssprache (so wie Russisch in den postsowjetischen Gebieten, Zentralasien, am Kaukasus etc.). Dies ermutigt die Menschen dazu, Sprachen zu lernen und es motiviert Universitäten und Schulen, ihre Sprachrichtlinien in Bezug auf Mehrsprachigkeit anzupassen.

      Trotzdem sollten wir uns fragen, ob die Globalisierung und die neuen Kommunikationstechnologien sich wirklich nur positiv auf die Mehrsprachigkeit auswirken. Neue Medien erleichtern einerseits den Zugang zu Fremdsprachen, andererseits sehen wir, wie immer mehr Sprachen auf Kosten anderer verschwinden. Außerdem ermutigt der internationale Druck auf die Sprachpolitik in den letzten Jahren Entscheidungsträger und -trägerinnen dazu, sich mehr Gedanken über das Schicksal bedrohter Sprachen, über die Rechte von Minderheiten und den Erhalt der Sprachenvielfalt zu machen. Während sich viele neue Nationalstaaten herausbilden und Sprachen in den offiziellen Status erheben, wird Mehrsprachigkeit immer häufiger von einer Notwendigkeit zu einer Wahl.

      1.2.8 Zusammenfassung

       Der Untersuchungsgegenstand Mehrsprachigkeit lässt sich in Hinblick auf Einzelpersonen (individuelle Mehrsprachigkeit), auf Personengruppen (gesellschaftliche Mehrsprachigkeit) oder den Grad der Institutionalisierung (institutionelle Mehrsprachigkeit) betrachten.

       Es werden vier Formen mehrsprachiger Gesellschaften unterschieden: mehrsprachige Staaten mit Territorialprinzip, mehrsprachige Staaten mit individueller Mehrsprachigkeit, einsprachige Staaten mit Minderheitsregionen (Grenzminderheiten oder isolierte Minderheiten) und städtische Migranten.

       Diglossie (beziehungsweise Tri- oder Polyglossie) bezeichnet den Zustand, wenn die Sprachen nicht in allen Situationen verwendet werden, sondern eine Verteilung der Sprachen auf bestimmte Domänen stattfindet.

       Der Mehrsprachigkeitsbegriff erfährt eine Vielzahl an Definitionen. Neben engen und weiten Definitionen, die eine Abgrenzung auf Grundlage der Kompetenz in der Sprache treffen, werden auch funktionale Definitionen angeboten, die heutzutage bevorzugt herangezogen werden.

       Obwohl Mehrsprachigkeit in den meisten Gesellschaften den Normalfall darstellt, wird sie oft nicht als solcher angesehen.

       Mehrsprachigkeit vermittelt soziale Werte und hat eine ethische Dimension: Sie wirkt in den Bereichen Menschenrechte, kulturelle Vielfalt und Koexistenz.

      1.2.9 Aufgaben zur Wissenskontrolle

      1 Nennen Sie die vier Formen mehrsprachiger Gesellschaften und charakterisieren Sie die wesentlichen Eigenschaften.

      2 Was versteht man unter Diglossie? Erklären Sie den Begriff und nennen Sie Beispiele.

      3 Welche Rolle spielt die Haltung des Sprechers beziehungsweise der Sprecherin (oder der Sprachgemeinschaft) in Bezug auf Formen von Zweisprachigkeit?

      4 In welchem Sinne können Globalisierungstendenzen die Ausbreitung und die Entwicklung von Mehrsprachigkeit nachteilig beeinflussen?

      5 Mehrsprachigkeit