Sara Izzo

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext


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Handlungsrichtung und intersubjektive Handlungsbereitschaft bestimmen.“17 Diese Form des Austausches bezeichnet sie als „kognitive Praxis“, die „durch Ordnungsentwürfe von Intellektuellen und ihre Umsetzung in handlungsrelevante Zielvorstellungen“18 determiniert werde. Wenn auch die Rolle der etablierten Intelligenz im Mai 1968 als sekundär zu bezeichnen ist – weder Sartre noch Foucault oder Genet waren in der Bewegung –, so greift sie doch Teilelemente der Bewegung auf und führt sie weiter, wie beispielsweise die Schaffung des G.I.P. und des darin symbolisierten neuen Interventionsschemas zeigt. Im Lichte von Winocks Klassifizierung unterschiedlicher intellektueller Interventionsformen legen sie als Befürworter der sozialen Umbrüche und Proteste ihre eigene Funktion grundsätzlich entsprechend der des kritischen Intellektuellen aus, indem nämlich politische und vor allem rechtliche Autoritäten angezweifelt werden. Dabei zielen sie jedoch unter Einwirkung der öffentlichen Transformationsprozesse darauf ab, neue Handlungskonzepte zu entwerfen. Gilcher-Holteys Ausführungen in Eingreifendes Denken zufolge werden die Distinktions- und Positionskämpfe im intellektuellen Feld am Ende des 20. Jahrhunderts durch drei konkurrierende Typen des Intellektuellen determiniert, die den Diskurs maßgeblich prägen: der ‚allgemeine‘, der ‚revolutionäre‘ und der ‚spezifische‘ Intellektuelle.19 Diese intellektuellen Handlungsentwürfe entstehen in Reaktion auf die gesellschaftliche Situation des Umbruchs und vermitteln unterschiedliche Deutungs- und Wahrnehmungsformen der sozialen Welt. Im Gegensatz zu Sartres durch die Maiereignisse transformierter Rolle des ‚universellen‘ Intellektuellen und Foucaults Ideal des ‚spezifischen‘ Intellektuellen, welche auf theoretisch fundierten und hergeleiteten Konzepten des politischen Engagements basieren, bleibt Genets Reaktionsform nur schwer klassifizierbar, wie in der sich anschließenden vergleichenden Analyse ermittelt werden soll. Julliard und Winock widmen ihm einen Artikel im Dictionnaire des intellectuels français, in dem die Unabhängigkeit als Schlüssel seines politischen Engagements benannt wird: „L’indépendance est la clé de son parcours intellectuel. […] Il renouvelle le modèle sartrien de l’écrivain engagé en refusant de se substituer aux hommes politiques et en choisissant les causes qu’il défend pour des raisons intimes et personnelles.“20 Genets politisches Engagement muss an jenen Merkmalen ausgerichtet werden, die den Intellektuellen allgemein kennzeichnen, nämlich an seinem in einem anderen Bereich erworbenen Prestige und an dessen zielorientiertem Transfer in die politische Öffentlichkeit zugunsten einer gesellschafts- und handlungsrelevanten Richtungsweisung. Dabei müssen seine Haltung zum eigenen Prestige und zu dessen Wirkungskraft in der Öffentlichkeit ebenso beleuchtet werden wie seine Positionierung zur intellektuellen Interventionsform und ihren unterschiedlichen Ausprägungen.

      2.1 Jean Genet im Fokus der medialen Öffentlichkeit: Zwischen revolutionärer Emblematisierung und Anonymitätsgebot

      Die gesellschaftlichen Veränderungen, welche sich in den Protestbewegungen der 1960er und 1970er widerspiegeln und durch diese vorangetrieben werden, zwingen die Intellektuellen zu einer Redefinition ihrer eigenen Funktion. Ein Widerspruch der sich auflehnenden Generation ist die offensive Ablehnung jedweder Autoritäten und Idole einerseits und der Prozess der Emblematisierung einzelner Persönlichkeiten zu Ikonen und Leitbildern der Protestbewegungen andererseits. Es wird ein grundsätzlicher Verzicht auf Idole und theoretische Ideengeber postuliert, die als Produkte der Konsumgesellschaft wahrgenommen werden. Dieses eigentümliche Paradox des Oszillierens zwischen der Ablehnung des Personenkultes und der Ikonisierung politischer und lebensweltlicher Vorbilder wird auch in Genets frühen politischen Reflexionen thematisiert und kennzeichnet somit seinen Eintritt in die gesellschaftspolitische Öffentlichkeit im Mai 1968. Die Unterstützung verschiedener revolutionärer Bewegungen mittels seines als Autor erworbenen Prestiges, wie sie unter anderem bei Benoît Denis als typisches Merkmal der intellektuellen Intervention beschrieben wird,1 bedingt die Furcht vor einer Instrumentalisierung seiner Person zu politisch-ideologischen Zwecken sowie vor der Defiguration seines Namens. Diese Problematik ist Gegenstand eines frühen journalistischen Kommentars über Genets Haltung zur Studentenrevolte von Mai 1968, der ein Interview mit Jean Genet im Rahmen seiner Einladung durch das comité d’agitation culturelle der Sorbonne beinhaltet.2 Das Aktionskomitee wurde am 13. Mai 1968 mit dem Ziel der Schaffung einer neuen Kultur gegründet und fordert von allen Kunstschaffenden die „auto-élimination“.3 Der Autor des in der Zeitung Combat erschienenen Artikels, Jean Lebouleux, betont in einem lobenden Kommentar, dass Genet sich des Versuchs der Instrumentalisierung seiner Person zu einem Idol der Studentenbewegung mit den Worten „[j]e ne veux pas être une idole, je suis un homme comme tout le monde“4 erwehrt. Genets Zurückhaltung während der Studentenunruhen wird sehr positiv aufgenommen, wie auch folgender Vergleich eines anwesenden Studenten mit Sartre belegt, der sich am 20. Mai im Auditorium der Sorbonne den Studierenden zum Dialog zur Verfügung gestellt hatte:5 „Sartre était un opportuniste, Genet est un poète.“6 Lebouleux kritisiert das Phänomen der Emblematisierung als einen der Konsumgesellschaft inhärenten Prozess:

      L’idole est un des produits de la société de consommation remise en question par les événements actuels. Il était donc normal que la révolution, si révolution il y a, supprime ce mythe. Or la conduite du comité d’agitation culturelle de la Sorbonne ou du moins de l’un de ses membres apparemment influent, hier, envers Jean Genet, est une véritable tentative de récupération. On veut montrer l’idole aux peuples, une idole de la liberté sans doute, mais un personnage mythique que chacun voulait approcher.7

      Der Versuch einer Instrumentalisierung Genets zum enragé geht jedoch auch von der Zeitschrift Combat selbst aus, die ihm während der Demonstrationen im Mai mehrere Artikel widmet, so dass Lebouleux’ Artikel als Kulminationspunkt dieser Problematik betrachtet werden kann. Die Zeitung beansprucht für sich eine singuläre und wegbereitende Positionierung innerhalb der 68er Bewegung, wie aus folgendem Leseraufruf ersichtlich wird:

      Seul de tous les journaux parisiens, Combat a compris, a expliqué, a soutenu le grand mouvement contre lequel le pouvoir a jeté ses matraques. […] Nous sommes contre tous les Springer, contre ceux de l’Argent et du Dogme, nous sommes devenus nous aussi une ‚poignée d’enragés‘.8

      Das Attribut des enragé, welches sich die Zeitung als autoreferentielles Merkmal selbst zuschreibt und in der Berichterstattung des Monats Mai auch vor allem die Opfer polizeilicher Übergriffe bezeichnet,9 wird in einem Artikel mit dem Titel „Saint-Genet, l’enragé“ auch Genet zuteil. Darin ergeht ein expliziter Appell an den Autor, zu einer symbolischen Figur der Barrikadenkämpfe zu avancieren: „Je demande à Genet d’être notre Courbet.“10 Der Artikel präsentiert Bruchstücke verschiedener Äußerungen Genets, die seine Teilnahme an den studentischen Demonstrationen belegen. Dabei lässt der Verfasser des Artikels Genets Zitate mit deskriptiven Einschüben über den Gesang eines „jeune terroriste [qui] chante, tel Néron, les flammes qui réjouissent la Ville“11 alternieren. Neben der metaphorischen Verankerung Genets in der Revolutionsgeschichte durch den Vergleich mit der historischen Persönlichkeit Courbets erfolgt seine Instrumentalisierung somit über die Selektion und Verknüpfung ausgewählter Aussagen, welche als Aufruf zur Demolierung der Stadt Paris inszeniert werden. Das sich in diesem Mechanismus widerspiegelnde diffuse, assoziative Wissen über dessen Persönlichkeit transformiert ihn zu einer Projektionsfläche revolutionärer Zielsetzungen. Das Emblem des enragé lehnt Genet jedoch ab, wie aus der am darauffolgenden Tag publizierten Rektifikation des Journalisten hervorgeht:

      [J’]ai publié, hier, sous le titre de „St. Genet l’Enragé“ [sic!] des bribes de phrases contre lesquelles Genêt [sic!] a protesté. Parce qu’il ne veut pas désavouer le rôle joué par «Combat» dans cette Révolution, et parce qu’il ne veut pas de la ‚niche‘ que je lui faisais à travers ces quelques phrases, Jean Genet a refusé le rôle de terroriste inquiétant et solitaire. Parce que je comprends le sens de sa démarche, parce que la probité intellectuelle l’exige et parce que, surtout, je suis militant de notre lutte, je me désavoue moi-même.12

      Genets Verzicht auf eine Sonder- bzw. Nischenstellung innerhalb der Protestbewegung wird als Wunsch nach intellektueller Rechtschaffenheit gedeutet. In seinem Artikel über Genets Besuch in der Sorbonne am 30. Mai 1968 stellt Jean Lebouleux bezeichnenderweise den Aspekt des Personenkultes in den Vordergrund seines Berichtes. So zitiert er in verkürzter