Sara Izzo

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext


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Fassung betrachtet werden sollen. Die in L’Ennemi déclaré vereinten Texte unterscheiden sich nicht nur entsprechend ihrem politischen Entstehungskontext, sondern weisen auch stilistische Differenzen auf. Pragmatische Texte alternieren mit literarischen Texten, journalistischen Berichterstattungen und Interviews, die alle eine differenzierte Lektüre verlangen, da ihnen unterschiedliche Kommunikationssituationen und -strategien zugrunde liegen.

      Der vermutlich Mitte der 1970er Jahre entstandene, erst 2010 unter dem Titel La Sentence4 bei Gallimard veröffentlichte Text repräsentiert eine weitere wichtige und noch kaum interpretierte Textquelle. Dieser ursprünglich titellose Text wird in einer Gegenüberstellung des Originalmanuskripts als Faksimile und seiner transkribierten Fassung illustriert. Es handelt sich bei La Sentence um einen fragmentierten Text, der bereits einige Textpassagen inkludiert, die Genet später in Un captif amoureux integriert. Er ist daher sehr aufschlussreich für die schriftstellerische Methode und Herangehensweise sowie für die im dritten Teil der Arbeit analysierte literarische Rekontextualisierung von politischen Diskursobjekten.

      Weitere zu Genets Lebzeiten unveröffentlichte Artikel bzw. Briefe oder Essays befinden sich als Faksimiles in dem anlässlich des 20-jährigen Todestages von Jean Genet publizierten Ausstellungskatalog.5 Es handelt sich hier teilweise um politische, teilweise um kunst- bzw. literaturkritische Reflexionen, die ebenfalls Eingang in die nachstehende Analyse finden werden.6

      Die vom IMEC publizierte Dokumentensammlung zum G.I.P., dem von Foucault initiierten Groupe d’information sur les prisons, in dem sich auch Genet für eine kurze Zeitspanne engagierte, hält drei weitere kaum rezipierte, teilweise zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlichte Schriften bereit.7 Diese erweisen sich gerade für die intertextuelle Aufarbeitung der komplexen Relation zwischen Genet und Foucault als äußerst gewinnbringend.

      Als Analysegrundlage fungiert ebenfalls eines der unveröffentlichten, im IMEC befindlichen Drehbücher mit dem Titel Le Langage de la muraille aus dem Jahre 1981. Dieses nicht publizierte Werk markiert einerseits Genets Distanzierung von einer literarisch-künstlerischen Werkproduktion in der Folge von Mai ’68, nimmt aber andererseits in Hinblick auf die Aufarbeitung des diskursiven Bezugssystems und der Positionierung im intellektuellen Feld eine Schlüsselstelle ein. Aufgrund der komplizierten Autorenrechte müssen Inhalte dieses Werks vor allem paraphrasiert werden.8

      Bei der Auswertung des hier präsentierten Korpus muss zum einen die jeweilige Textgattung berücksichtigt werden. Zum anderen muss dem Anspruch Rechnung getragen werden, wonach auch die journalistischen Schriften Genets ein poetisches Potential besitzen. Diese stehen jedoch zugleich im Kontext bestimmter editorischer Zielsetzungen und erschließen einen spezifischen Leserkreis. So müssen beispielsweise die politischen Leitlinien der jeweiligen Zeitung, ihre Adressaten und der Entstehungskontext bei der Deutung bemessen werden. Die gesamten politisch intentionierten Publikationen lassen sich zudem als öffentliche Interventionen charakterisieren. Unabhängig von ihrer Funktion als Reportage, persönlicher Kommentar oder themenorientierter Essay liefern sie nicht einfach einen Beitrag zu bestimmten zeithistorischen Ereignissen oder Fragestellungen, sondern tragen vor allem zu ihrer diskursiven Konstruktion bzw. Dekonstruktion bei. Darunter thematisieren einige Artikel die spezifische Verknüpfung von Poesie und Politik und nehmen daher eine Schlüsselposition ein.

      Neben den pragmatischen und journalistischen Interventionen finden auch die als literarisch zu klassifizierenden Texte Betrachtung. Grundsätzlich voneinander zu unterscheiden sind dabei Genets bewusst unveröffentlichtes Drehbuch und das kurz nach seinem Tod erschienene Werk Un captif amoureux. Während Le Langage de la muraille eine teilweise fiktionale, teilweise dokumentarische Bedeutung zukommt, ist das Genre seines letzten Werks hingegen nur schwer zu benennen. In seiner gattungsspezifischen Hybridität zwischen autobiographischem Roman über das Zusammenleben mit den Palästinensern, literarischer Reportage über die politischen Ereignisse und Ziele ausgewählter revolutionärer Gruppierungen, symbolischem Reisebericht in Form einer Odyssee durch das politische Zeitgeschehen und Liebesgedicht eines Barden der palästinensischen Revolution vermischen sich unterschiedliche Erzählhaltungen und -stile. Durch die retrospektive Erzählperspektive wird nicht nur auf Sujets und Fragestellungen einzelner journalistischer Texte rekurriert, sondern die politischen Stellungnahmen selbst werden zugleich implizit reflektiert. Diese metadiskursive Betrachtungsweise lässt sich als konstitutive Komponente dieses letzten Werks von Jean Genet beschreiben und greift ein Vorhaben auf, das der Autor hinsichtlich der Publikation ausgewählter politischer Schriften und Reden seiner letzten Lebensjahre 1984 bei Claude Gallimard vorbrachte und das in einem kurzen Vorwort in L’Ennemi déclaré erläutert wird:

      Une fois rassemblés et redactylographiés la plupart de ces écrits ou de ces interventions orales, dont la publication s’était échelonnée sur une vingtaine d’années, son intention était d’opérer un choix et, en quelque sorte, de les refondre sans tenir compte de la chronologie, pour mettre en lumière les réflexions et convictions qui avaient orienté ses prises de position. Plutôt que le ralliement à une idéologie, référant à une morale politique, il évoquait plus volontiers le hasard et la curiosité. Jean Genet n’a jamais donné une forme définitive à ce projet. Mais d’y avoir songé l’a sans doute incité à chercher la composition originale d’une œuvre où viendraient s’inscrire, comme les pièces d’un puzzle, les notes prises durant ses voyages et ses longues périodes de solitude, inspirées de ses observations, de ses rencontres et de sa perception, lucide, d’un monde en mouvement; d’où son dernier ouvrage, Un captif amoureux […].9

      Nicht nur die Idee einer strukturellen Vernetzung einzelner Textfragmente spielt jedoch eine entscheidende Rolle, sondern auch die rückblickende Betrachtung seiner politischen Interventionen. Der Faktor der zeitlichen Distanz repräsentiert dabei das Fundament eines autoreferentiellen und selbstkritischen Kommentars, anhand dessen der Wandel des revolutionären Diskurses fassbar wird.

      1.3 Forschungsstand

      Grundsätzlich handelt es sich bei der Aufarbeitung des politischen Engagements von Jean Genet um einen verhältnismäßig jungen Untersuchungsgegenstand, der sich mit Erscheinen der beiden Werke Un captif amoureux 1986 sowie L’Ennemi déclaré 1991 entwickelt.

      Neben einigen frühen Untersuchungen zu essentiellen – stilistischen und motivischen – Leitgedanken der politischen Schriften1 kristallisiert sich vor allem die Frage nach der Situierung dieses letzten Werks von Jean Genet innerhalb seines Gesamtwerks heraus. Dabei liegt der Schwerpunkt zunächst vornehmlich auf der Relektüre des bereits etablierten Roman- und Dramenwerks, ausgehend von den noch wenig erforschten politischen Werken. In diesem Sinne sind die Studien zum Motiv der Revolution in Genets Werk bzw. vor allem in seinen Dramen2 und zu seiner Strategie des Betrugs zu lesen, die Fredette vermittels der vergleichenden Lektüre von Un captif amoureux und Pompes funèbres beschreibt.3 Auch die in einer Spezialausgabe des Esprit créateur vereinten Beiträge zur Tagung „Jean Genet, littérature et politique“ verfolgen diese Zielsetzung und wählen daher eine zwischen den politischen Texten und ausgewählten Dramen und Romanen vergleichende Perspektive, wie der Herausgeber Patrice Bougon betont:

      It seems today, that such posthumous texts will allow us to reread Genet’s complete work under a different light. If the majority of the contributions in this issue concern Un captif amoureux and L’Ennemi déclaré, other texts are also called upon where their political and ethical dimensions are seen as dominant.4

      Auch die Sonderausgabe der Yale French Studies zum Thema Genet: In the language of the Enemy verfolgt einen ähnlichen Ansatz, wobei jedoch hier der Stellenwert der politischen Schriften in einzelnen Beiträgen stärker untermauert wird.5 Mehr noch gilt dies für den im selben Jahr erschienenen Sammelband Flowers and Revolution, der zudem einige Reden, Interviews und einen Brief von Genet an Allen Ginsberg beinhaltet,6 sowie für die Untersuchung von Pascale Gaitet mit dem Titel Queens and Revolutionaries7. Obwohl sich eine allmähliche Ausdifferenzierung der literaturwissenschaftlichen Untersuchung des Spätwerks nachzeichnen lässt, repräsentiert auch die Annäherung zwischen Spätwerk und Dramen einerseits bzw. Romanen andererseits in Hinsicht auf die Politik weiterhin einen wichtigen Forschungsschwerpunkt.8 Grundsätzlich