Ilona Schulze

Bilder - Schilder - Sprache


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verstanden werden muss, sind auch multimodale semiotische Systeme in den Traditionen des entsprechenden Raums (im Sinne von espace) eingebettet und vorstrukturiert. Dementsprechend müssen aber synchrone Spezifika in Rechnung gestellt werden, die sich in den sozialen, kulturellen, architektonischen, infrastrukturellen und ökonomischen Mustern des entsprechenden öffentlichen Raums abbilden bzw. diese mit konstituieren.

      Natürlich kann ein solches Unternehmen niemals vollständig sein. Das liegt zum einen an der oben erwähnten Dynamik der öffentlichen Räume in semiotischer ebenso wie funktionaler Hinsicht. Zum anderen können semiotische Landschaften und ihre grammaire bzw. ihr vocabulaire unterschiedliche Lesarten haben, die sich etwa durch das biographische, diastrate oder eventuell auch diatope Profil des jeweiligen ‚Lesenden‘ ergeben können. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass die in die Arbeit eingebrachten Generalisierungen nicht nur Abbildungen einheitlicher Verfahren des Schreibens multimodaler Texte sind, sondern auch globalere, um nicht zu sagen tendenziell universelle Momente des Lesens solcher Texte spiegeln.

      Zu fragen ist auch, ob mit den drei Größen Schilder, Bilder und Sprache die Semiotik öffentlicher Räume hinreichend abgedeckt ist. So verlangen Dorfplätze, Parks, große Verkehrsstraßen oder gar Tiefgaragen sicherlich auch nach anderen oder zusätzlichen Deskriptoren, die in den hier gewählten Räumen zunächst nicht oder weniger zum Tragen kommen. Dennoch muss damit gerechnet werden, dass analoge Studien zu anderen ‚Raum-Typen‘ auch zur Verfeinerung des deskriptiven Inventars beitragen, das in der vorliegenden Studie zum Einsatz gekommen ist, oder es ergänzen.

      Hier sollte auch der Faktor ‚Zeit‘ nicht unerwähnt bleiben: Wie oben gesagt handelt es sich bei vorliegender Studie um eine Momentaufnahme. Wünschenswert wäre natürlich, diese Art der Dokumentation um eine Langzeitstudie zu ergänzen, die Wandlungserscheinungen ausgehend vom derzeitigen Ist-Zustand sichtbar machen könnte. Hierdurch könnten die in der vorliegenden Studie gemachten Beobachtungen zur Diachronie der Erhebungsräume weiter verfeinert werden, da dann auch eine Parallelität der ‚Datenlage‘ gegeben wäre, die naturgemäß für frühere Zeitpunkte in größerem Umfang fehlt.

      Ein weiteres Desiderat wäre die Einbringung einer typologischen Perspektive, indem mehr oder minder analog definierte öffentliche Räume unterschiedlicher urbaner Kontexte zum Beispiel anhand der in vorliegender Arbeit vorgestellten Systematik verglichen werden, um ökonomische, kulturelle und soziale Spezifika ebenso herauszuarbeiten wie Reflexe einer Globalisierung oder Entlehnung entsprechender semiotischer Systeme.

      Dennoch hoffe ich, dass die vorliegende Studie dazu beträgt, der (in den Worten des oben angesprochenen René Pechère) grammaire und dem vocabulaire zweier urbaner semiotischer Landschaften näherzukommen. Einige mögliche Defizite erklären sich vielleicht mit der relativen Kürze der Laufzeit des Projekts. Andere sind sicher auch der Tatsache geschuldet, dass wir derzeit erst am Anfang der Theorie- und vor allem Methodologie-Bildung zur Semiotic Landscape-Forschung stehen, weshalb das eine oder andere an semiotischen Einheiten anders gelesen werden kann als in vorliegender Arbeit vorgeschlagen.

      Abschließend möchte ich der Fritz Thyssen-Stiftung herzlich dafür danken, dass sie das Vorhaben, dessen Ergebnisse in diesem Buch versammelt sind, mittels eines Forschungsstipendiums so großzügig unterstützt hat. Ohne diese Unterstützung wäre die Realisierung dieses Vorhabens kaum möglich gewesen.

      1 Einleitung

      Die vorliegende Studie versteht sich als empirische Fallstudie zur Frage, in welchem Umfang sich der öffentliche Raum als semiotische Landschaft (semiotic landscape) mit Fokus auf die semiotischen Systeme Bild/Grafik und Sprache darstellt. Ausgangspunkt ist also die Präsens von Sprache (in ihrer grafischen Repräsentation mittels Schrift) im öffentlichen Raum, wie sie sich in Beschilderungen (im weitesten Sinn des Wortes, zur Definition siehe unten) äußert sowie deren typischen Kombinationen mit bildlich/grafischen Elementen im öffentlichen Raum. Damit knüpft die Untersuchung an die relativ jungen Traditionen von Forschungen zum Komplex Linguistic Landscapes an, erweitert die Perspektive aber unter Einschluss von Theorien und Methoden der bisher schwerpunktmäßig auf die Beschreibung zweidimensionaler, gedruckter Daten konzentrierten Bildlinguistik (s.u.) hin zu einer multimodalen und multifunktionalen Betrachtungsart des öffentlichen Raumes. Zugrunde liegt die Annahme, dass

      (wir) [v]on der Vielfalt möglicher Zeichentypen und ihren Verknüpfungen (…) regelhaft Gebrauch (machen), also stets orientiert an kulturell und sozial hervorgebrachten und damit wandelbaren Konventionen der Zeichenverwendung und Zeicheninterpretation. Insofern handelt es sich bei diesen Modalitäten um ausdifferenzierte Zeichensysteme, da sie uns jene kommunikativen Übereinstimmungen und Unterschiede erkennen lassen, die Mitteilen und Verstehen erst ermöglichen. (Klemm und Stöckl 2011: 10)

      Hinsichtlich der Konventionalisierung von Zeichenverwendung und –interpretation ergibt sich für den öffentlichen Raum die Frage nach dessen Genesezeitraum. Wird also angenommen, dass die Verwendung von Sprache und Bild/Grafik sowohl alleine als auch in Kombination im öffentlichen Raum bestimmten Regeln unterliegt, muss ein Zeitraum bestimmbar sein, der als Ausgangspunkt für die Entwicklung oder Entstehung dieser Regeln gelten kann. Die Identifikation dieses Ausgangspunktes sowie der Umstände, die zur Ausprägung bestimmter Zeichenverwendungen in bestimmten Kontexten geführt haben, können in der Folge zur Erklärung vorgefundener synchroner Strukturen und Muster monomodaler und multimodaler Aggregate herangezogen werden.

      Gleichzeitig gilt es zu klären, ob multimodale Aggregate im öffentlichen Raum hierarchisierbar sind bzw. hierarchisiert werden müssen, um ihre Funktion für die Konstruktion des öffentlichen Raumes und seiner Diskurse sowohl aus den Perspektiven der Linguistic Landscape-Forschung als auch der Bildlinguistik, möglicherweise ergänzt durch eine allgemeinere semiotische Perspektive, adäquat beschreiben zu können, woraus sich als weiterer Schritt die Suche nach typischen Aggregaten auf unterschiedlichen Hierarchieebenen oder in unterschiedlichen Funktionstypen ergibt. Es soll also insgesamt nicht nur die direkte Interaktion von geschriebener Sprache und bildlichen/grafischen Elementen zur Formulierung von Gesamtaussagen untersucht werden, sondern auf verschiedenen Ebenen deren Beitrag zur Strukturierung und Ausprägung eines öffentlichen Raumes, dessen dauerhafte Gegebenheiten in Form von Gebäuden, Straßen, Wegen etc. sowohl als Träger von Signs1 im Sinne der Linguistic Landscape-Forschung als auch als mögliche eigenständige semiotische Struktur betrachtet werden.

      Aus dieser Perspektive werden in der vorliegenden Studie exemplarisch zwei spezifische, sowohl areal als auch funktional abgegrenzte, aber ähnliche semiotische Landschaften, nämlich die der Münchener Neuhauser Straße/Kaufingerstraße/Weinstraße/Theatinerstraße und kontrastiv hierzu die des Münchener OEZ („Olympia Einkaufszentrum“) als durch diverse Faktoren intern strukturierte Räume anhand einer empirischen, sowohl qualitativ als auch quantitativ angelegten Mikrostudie zu den in diesen Räumen gegebenen öffentlichen Zeichentypen rekonstruiert und verglichen werden.

      Als Leithypothese soll dabei gelten, dass sich der öffentliche semiotische Raum über eine kommunikative, also dialogische Dimension mit den Wahrnehmenden konstituiert, wobei das hierfür relevante Zeichensystem als multimodales System im Spannungsverhältnis von Sprache, Bild und Medium („Zeichenträger“) verstanden wird. In diesem Zusammenhang wird auch ein Augenmerk darauf gelegt, dass zahlreiche semiotische Strukturen zwei unterschiedliche Verweisfunktionen mit unterschiedlichen Zielrichtungen haben. Sie kommunizieren in ihrer dialogischen Funktion mit dem Wahrnehmenden über konkrete Handlungen und Diskurse, präsentieren aber gleichzeitig auf einer zweiten, etwas abstrakteren Ebene den öffentlichen Raum als grundlegende, noch nicht ‚personalisierte‘ konkrete Form, also als allgemein erkennbare Struktur mit bestimmter Funktion, die sich aus bestimmten Markern ablesen lässt und die dann ‚individuell‘, also auf einer für einen gegeben Raum spezifischen Art und Weise profiliert wird.

      Die Studie basiert auf einer primär Foto-gestützten und durch zusätzliche Daten ergänzten Dokumentation der Untersuchungsgebiete, die sich neben ihrem aktuellen Erscheinungsbild auch auf historische Dimensionen ab dem frühen 20. Jahrhundert erstreckt. Diese Daten werden um eine Rekonstruktion derjenigen relevanten gesellschaftlichen, politischen