Literatur, die mit einer Betonung der fundamentalen Polysemie sprachlicher Äußerungen einhergeht, hat insoweit eine ethische Dimension, als sie die Mehrgleisigkeit des Denkens und somit auch die Vielfältigkeit menschlichen Zusammenlebens vor Augen führen kann. In der Sprachkritik, wie man sie beispielsweise bei Autoren wie Yoko TawadaTawada, Yoko oder Philosophen wie Jacques DerridaDerrida, Jacques vorfindet, wird die Vorstellung von Sprache als ›Besitz‹ immer wieder neu ad absurdum geführt. Jenseits des ›Einsprachigkeitsparadigmas‹ spricht Yasemin YildizYildiz, Yasemin in Beyond the Mother Tongue (2012) von einer »postmonolingual condition«, in der man sich derzeit befinde. In Le monolinguisme de l’autre (1996) stellt DerridaDerrida, Jacques im Begriff ›Muttersprache‹ den Bezug zwischen Geburt und Blut auf der einen Seite und Sprache auf der anderen Seite in Frage. Auch Giorgio AgambenAgamben, Giorgio weist in Mittel ohne Zweck auf die Verquickung von ›factum loquendi‹ und ›factum pluralitatis‹ als seit der Romantik von Sprach- und Politikwissenschaft vorausgesetzte Fiktionen hin. Das Verhältnis von Sprache und Gemeinschaft, die im nationalstaatlichen Kontext unhinterfragt aufeinander bezogen werden, wird von Agamben dekonstruiert, indem die grundsätzliche und indefinite Fremdheit von »Sprache« und »Volk« in den Mittelpunkt gerückt wird: »Die Relation Zigeuner-argot stellt diese Entsprechung im gleichen Moment, da sie sie parodistisch übernimmt, radikal in Frage. Die Zigeuner verhalten sich zum Volk, wie der argot sich zur Sprache verhält; aber in dem kurzen Moment, den die Analogie andauert, lässt sie ein Schlaglicht fallen auf die Wahrheit, die zu verdecken die Entsprechung Sprache-Volk insgeheim angelegt war: Alle Völker sind Banden und ›coquilles‹, alle Sprachen sind Jargons und ›argot‹.« (AgambenAgamben, Giorgio, Mittel ohne Zweck, 68) Wenn das Fremde jeder Sprache prinzipiell eingeschrieben ist, dann ist demzufolge jede Sprache bereits eine Übersetzung, »keine ursprünglich natürliche, sondern eine ursprünglich kultivierte, überbaute Sprache« (HaverkampHaverkamp, Anselm, »Zwischen den Sprachen«, 9). Illustrieren kann das auch ein Brief von Klaus MannMann, Klaus vom 18.2.1949 aus dem amerikanischen Exil an Herbert SchlüterSchlüter, Herbert; ein Brief, in dem Mann hervorhebt, wie der deutsch-englische Bilingualismus seine ursprüngliche Idee einer lebenslänglichen Beheimatung in der ›Muttersprache‹ erschüttert habe: »Damals hatte ich eine Sprache, in der ich mich recht flink auszudrücken vermochte; jetzt stocke ich in zwei Zungen. Im Englischen werde ich wohl nie ganz so zuhause sein, wie ich es im Deutschen war – aber wohl nicht mehr bin …«4Mann, KlausGregor-Dellin, Martin Die Mehrsprachigkeit dekonstruiert somit die Auffassung der Ursprünglichkeit bzw. Natürlichkeit der Erstsprache, wie dies auch Thomas Paul BonfiglioBonfiglio, Thomas Paul in Mother Tongues and Nations (2010) beschreibt.
Auch aus pädagogischer Perspektive, in der Sprachendidaktik, kann auf die ethische Bedeutsamkeit der Vermittlung mehrsprachiger Literatur an ein studentisches Publikum hingewiesen werden. Aus einer multilingualen Einstellung als Lernattitüde soll bei der Lektüre die Berücksichtigung der spezifischen Literarizität mehrsprachiger Literatur sowie die Anerkennung transnationaler Autoren hervorgehen: »When we adopt a multilingual orientation, we view writers as making distinct choices based on their multilingual status, rather than making ›mistakes‹ because of their multilingual status.« (OlsonOlson, Bobbi, »Rethinking our Work«, 3)
Diese Wertschätzung der sprachlichen Diversität und die Betonung der multilingualen Poetik der transkulturellen Literatur wird von Feridun ZaimoglZaimoglu, Feridunu aufs Korn genommen. In der Rezeption wird die in Kanak Sprak verwendete ungrammatische, unidiomatische ›Zwischensprache‹ oft als ethisch-politische Chiffre und Aufforderung zur Toleranz und Empathie aufgefasst. Das Verlangen des Lesers nach exotischer ›Authentizität‹ und ›Wahrhaftigkeit‹ wird von ZaimogluZaimoglu, Feridun radikal abgelehnt, weil auf diese Weise seinen literarischen Texten die Autonomie aberkannt werde: »Die ›besseren Deutschen‹ sind von diesen Ergüssen ›betroffen‹, weil sie vor falscher Authentizität triefen, ihnen ›den Spiegel vorhalten‹, und feiern jeden sprachlichen Schnitzer als ›poetische Bereicherung ihrer Mutterzunge‹. Der Türke wird zum Inbegriff für Gefühl, einer schlampigen Nostalgie und eines faulen ›exotischen‹ Zaubers.«5Zaimoglu, Feridun
c) Übersetzung und Ethik
Die alttestamentliche Erzählung des Turmbaus zu Babel wird regelmäßig herangezogen, um die theologische Bedeutsamkeit der Übersetzung als Überwindung der Sprachverwirrung vor Augen zu führen. Die Verwirrung der Sprachen nach Gottes Eingriff in Babel führt, so Giulia RadaelliRadaelli, Giulia (Literarische Mehrsprachigkeit, 15), zu einer Inkommensurabilität der Einzelsprachen, zwischen denen in der Übersetzung kein Eins-zu-Eins-Verhältnis mehr bestehen kann. Durch Babel wird das zwischenmenschliche ›Sich-Verstehen-Können‹ aufgehoben. Demzufolge kann der Mensch nicht anders als übersetzerisch tätig sein, da die ursprüngliche, paradiesische Unschuld einfacher Kommunikation verlorengegangen ist (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 19). Nach BenjaminBenjamin, Walter gehört es gerade zur »Aufgabe des Übersetzers«, »[j]ene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien« (BenjaminBenjamin, Walter, »Die Aufgabe des Übersetzers«, 19). Übersetzen bedeutet demnach, etwas zu übersetzen, das nicht übersetzbar ist und das utopisch in allen Sprachen aufleuchtet, um so einen unmittelbaren Zugang zum heiligen Text als »das Urbild oder Ideal aller Übersetzung« zu eröffnen (ebd., 21).
Die vom Übersetzer herbeigeführte Desorientierung des Lesers und seine Konfrontation mit dem Fremden stehen in der Übersetzungswissenschaft, von Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich über Antoine BermanBerman, Antoine bis Lawrence VenutiVenuti, Lawrence, im Zentrum ethischer Überlegungen. Die sprachliche Fremderfahrung wird normativ aufgeladen, indem vorausgesetzt wird, dass sich eine gute Übersetzung von Ethnozentrismus distanziert, sich gegen Machtasymmetrien wehrt und Schriftsteller und Leser miteinander in Verbindung bringt. In dieser Vermittlerposition übernimmt der Übersetzer die gesellschaftspolitische Aufgabe, in der Übersetzung »selbst ethisch sichtbar zu werden« (StolzeStolze, Radegundis, Hermeneutik und Translation, 126). Die Sichtbarmachung des Übersetzers ist denn auch, wie VenutiVenuti, Lawrence in The Translator’s Invisibility (1995) argumentiert, eine Sichtbarmachung sprachlich-kultureller Differenz (vgl. GiustiGiusti, Simone, »Que viva letteratura!«, 189f.). Die ethische Bedeutsamkeit der Spannung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Übersetzers bezeichnet zugleich auch eine Spannung zwischen dargestellter Identität und Nicht-Identität der Kulturen. Anselm HaverkampHaverkamp, Anselm behauptet vor diesem Hintergrund, Übersetzung sei »die Agentur der Differenz, welche die trügerische Identität von Kulturen sowohl schafft, als auch sie im Zwiespalt ihrer ursprünglichen Nicht-Identität erneuert und vertieft.« (HaverkamHaverkamp, Anselmp, »Zwischen den Sprachen«, 7) Allerdings sollte die Alteritäts- und Differenzorientierung ethisch begründeter Traditionen der Übersetzungswissenschaft nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Übersetzung des Öfteren eher die Einsprachigkeit als die Mehrsprachigkeit größerer Sprachgemeinschaften zu fördern scheint und somit volens nolens die Grenzen einer homogenen Sprachgemeinschaft konsolidiert (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 26).
Ähnliche ideologiekritische Überlegungen werden von den zieltextorientierten »Descriptive Translation Studies« vorgebracht, vertreten beispielsweise durch Susan BassnettBassnett, Susan, André LefevereLefevere, André, José LambertLambert, José, Gideon TouryToury, Gideon und Theo HermansHermans, Theo. Deren Arbeiten rücken diejenigen Eingriffe in Texte in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses, die einen Text einer Zielkultur angleichen. Die »[t]ranslatorische Ethik oder Fremderfahrung« (StolzeStolze, Radegundis, Hermeneutik und Translation, 125), die der Übersetzung zugrunde liegen soll, gilt als normativer Orientierungspunkt, an den sich der Übersetzer zu halten habe. Das ethische Moment der literarischen Übersetzung besteht vor diesem Hintergrund in der Anerkennung und in der Aufnahme des Anderen als eines Anderen (GodardGodard, Barbara, »L’Éthique du traduire«, 54); und die Übersetzung wird auf diese Weise zum ethischen Akt, der eine Bewegung vom Anderen als Alter Ego zu »soi-même comme un autre« (RicœurRicœur, Paul, Soi-même comme un autre) ermöglicht. Der Glaube an die prinzipielle Übersetzbarkeit eines Textes deutet, so Umberto EcoEco, Umberto in La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea (1993), auch auf die Überzeugung hin, dass