gilt verbreitet das Primat der Einfachheit und die Angst vor Komplexität, die kaum Raum für pragmatische Variation lassen. Für Literatur, zumal eine anspruchsvolle mehrsprachige, ist in diesen Konzepten kein Platz.
Folglich bleiben auch die katalytischen Potentiale von Mehr-Sprachen ungenutzt. Etwa wie es die von der kognitiven Linguistik inspirierte kognitive Sprachdidaktik, die Mehrsprachigkeits-/Interkomprehensionsdidaktik, die interkulturelle Sprachdidaktik, die Didaktik der Erinnerungsorte oder einfache Methoden wie die diglot-weave-method oder der Einsatz des Euro-Latein zur Vermittlung von Wortschatz tun. All diesen Ansätzen und Methoden ist gemein, dass sie die sprachlichen und linguakulturellen Vorkenntnisse der Lerner konstruktiv für die Sprachenvermittlung und den Sprachenerwerb nutzen, indem sie kontrastiv vermittelnd entweder stärker form- oder pragmatisch-orientiert an vorhandene Konzepte bei den Lernern andocken. Die kognitive Sprachdidaktik versucht etwa, über konzeptuelle Metaphern und Bildschemata verschiedener Linguakulturen (z.B. das Konzept der Fläche in sous la pluie/bajo la lluvia im Französischen und Spanischen vs. das Konzept des Containers in im Regen/in the rain im Deutschen und Englischen, vgl. EvansEvans, Vyvyan/TylerTyler, Andrea, »Applying cognitive linguistics to pedagogical grammar«) die Transferdifferenz zwischen den Linguakulturen zu bestimmen und für Lerner salient und damit nutzbar zu machen. Gleichzeitig ergibt sich aus der Orientierung auf die Bedeutungen in Linguakulturen eine aus vermeintlichen Simplizitätsgründen bisher unterentwickelte, produktive Schnittstelle zwischen Sprach- und Kultur-/Literaturvermittlung. Auf der Bedeutung – und den vorhandenen Ressourcen des kulturellen und sprachlichen Grenzgängertums – basieren die interkulturelle Literaturdidaktik des Dialogs (vgl. OliverOliver, José F., Lyrisches Schreiben im Unterricht) und die Poetikdozentur und Schulprogramme des Internationalen Forschungszentrums Chamisso-Literatur.
e) Desiderate
Generell ist abschließend zu betonen, dass im Bereich literarischer Pragmatik der Mehrsprachigkeit eine Reihe an Forschungsdesideraten bestehen. Dies ist einerseits fachsystematisch dadurch zu erklären, dass innerhalb der Germanistik die Felder der Linguistik und der Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer mehr als eigenständige und voneinander unabhängige Disziplinen betrachtet wurden, und andererseits dadurch, dass erst in jüngerer Zeit interkulturell-mehrsprachige Literatur vermehrt im Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit steht. Als besonders dringliche Desiderate sind zu nennen:
(a) die systematische Fortentwicklung der Grundlagenforschung im Bereich der linguistischen und literaturwissenschaftlichen Pragmatik der Mehrsprachigkeit;
(b) die Berücksichtigung spezifischer Sprachpaare in der Untersuchung konkreter Formen literarischer Mehrsprachigkeitspragmatik, was die Kooperation mehrsprachiger Forschungsnetzwerke interkultureller Literatur- und Sprachwissenschaftler erfordern wird;
(c) die historische Untersuchung und der systematische Ausbau der Schnittstellen von literaturwissenschaftlicher Interkulturalitätsforschung und Übersetzungswissenschaft;
(d) die Untersuchung der Relation von literarischen und gesellschaftlich relevanten Aspekten von Mehrsprachigkeit einschließlich der Beleuchtung der Potentiale literarischer Mehrsprachigkeitspragmatik für gesellschaftliche Wissensvorräte und Ressourcen.
Literatur
Bachmann-Medick, DorisBachmann-Medick, Doris, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006.
Biere, Bernd UlrichBiere, Bernd Ulrich, »Linguistische Hermeneutik und hermeneutische Linguistik«, in: Fritz HermannsHermanns, Fritz/Werner HollyHolly, Werner (Hrsg.), Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, Tübingen 2007, S. 7–21.
Breinig, HelmbrechtBreinig, Helmbrecht/Klaus LöschLösch, Klaus, »Introduction: Difference and Transdifference«, in: Helmbrecht Breinig/Jürgen GebhardtGebhardt, Jürgen/Klaus Lösch (Hrsg.), Multiculturalism in Contemporary Societies. Perspectives on Difference and Transdifference, Erlangen 2002, S. 11–36.
Busse, DietrichBusse, Dietrich, Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik, Opladen 1992.
Evans, VyvyanEvans, Vyvyan/Andrea TylerTyler, Andrea, »Applying Cognitive Linguistics to Pedagogical Grammar: the English Prepositions of Verticality«, in: Revista Brasileira de Linguistica Aplicada 5.2 (2005), S. 11–42.
Fix, UllaFix, Ulla, »Was heißt Texte kulturell verstehen? Ein- und Zuordnungsprobleme beim Verstehen von Texten als kulturellen Entitäten«, in: Hardarik BlühdornBlühdorn, Hardarik u.a. (Hrsg.), Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Jahrbuch 2005 des Instituts für deutsche Sprache, Berlin/New York 2006, S. 254–276.
Földes, CsabaFöldes, Csaba, Interkulturelle Linguistik im Aufbruch, Tübingen 2003.
Fritz, GerdFritz, Gerd, Einführung in die historische Semantik, Tübingen 2005.
Fritz, GerdFritz, Gerd, Historische Semantik, Stuttgart 2006.
Hermanns, FritzHermanns, Fritz/Werner HollyHolly, Werner, »Linguistische Hermeneutik. Versuch eines Anfangs«, in: Dies. (Hrsg.), Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, Tübingen 2007, S. 1–4.
Hess-Lüttich, Ernest W.B.Hess-Lüttich, Ernest W.B., Soziale Interaktion und literarischer Dialog. Zeichen und Schichten in Drama und Theater, Bd. 2, Berlin 1985.
Jäger, LudwigJäger, Ludwig, »Verstehen und Störung. Skizze zu den Voraussetzungen einer linguistischen Hermeneutik«, in: Fritz HermannsHermanns, Fritz/Werner HollyHolly, Werner (Hrsg.), Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, Tübingen 2007, S. 25–42.
Kalscheuer, BrittaKalscheuer, Britta, »Die raum-zeitliche Ordnung des Transdifferenten«, in: Lars Allolio-NäckeAllolio-Näcke, Lars/Britta Kalscheuer/Arne ManzeschkeManzeschke, Arne (Hrsg.), Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Theorie der Transdifferenz, Frankfurt/M. 2005, S. 68–85.
Kilchmann, EstherKilchmann, Esther, »Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Zur Einführung«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3.2 (2012), S. 11–18.
Kußmaul, PaulKußmaul, Paul, Kreatives Übersetzen, Tübingen 2000.
Mannweiler, CarolinMannweiler, Carolinee, »BeckettBeckett, Samuels Mehrsprachigkeit. Zwischen Universalismus und Authentizität«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6.2 (2015), S. 51–71.
Oliver, José F.Oliver, José F., Lyrisches Schreiben im Unterricht. Vom Wort in die Verdichtung, Seelze 2013.
Pagni, AndreaPagni, Andrea, »Lateinamerika als Übersetzungsraum. Überlegungen zur literarischen Übersetzung als Gegenstand der Kulturwissenschaft«, in: Andreas GipperGipper, Andreas/Susanne KlengelKlengel, Susanne (Hrsg.), Kultur, Übersetzung, Lebenswelten. Beiträge zu aktuellen Paradigmen der Kulturwissenschaften, Würzburg 2008, S. 161–176.
PugliesePugliese, Rossella, Rossella, »Interkulturalität als Identität: Erfahrungen deutsch-italienischer Sprachkontakte als literarische Inszenierung«, in: Csaba FöldesFöldes, Csaba (Hrsg.), Interkulturelle Linguistik im Aufbruch. Das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode, Tübingen 2011, S. 219–237.
Raster, PeterRaster, Peter, Perspektiven einer interkulturellen Linguistik. Von der Verschiedenheit der Sprachen zur Verschiedenheit der Sprachwissenschaften, Frankfurt/M. 2002.
Renn, JoachimRenn, Joachim, »Perspektiven einer sprachpragmatischen Kulturtheorie«, in: Friedrich JägerJäger, Friedrich/Jürgen StraubStraub, Jürgen (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften: Paradigmen und Disziplinen, Bd. 2, Stuttgart 2004, S. 430–448.
Roche, JörgRoche, Jörg, Mehrsprachigkeitstheorie, Tübingen 2013.
Roche, JörgRoche, Jörg/Ferran Suñer MuñozSuñer Muñoz, Ferran, »Kognition und Grammatik: Ein kognitionswissenschaftlicher Ansatz zur Grammatikvermittlung