in einer doppelten Perspektive wahrzunehmen: Einerseits ist der Vorrat von Semantiken, der Gesellschaft zur Verfügung steht, nicht denkbar, wenn keine bedeutungsunterscheidenden Merkmale ausgemacht werden können. Insofern hat Kultur unmittelbar etwas mit Textualität zu tun, auch wenn sie nicht mit Textualität gleichgesetzt werden kann. Denn Kultur besteht eben andererseits aus Mechanismen, die sich rekursiv erhalten, stabilisieren, aber auch verändern, wodurch der zutreffende Eindruck entsteht, dass Kultur an entscheidender Stelle an der Konstitution gesellschaftlicher Regeln Teil hat.
Für die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit ist diese Doppeldeutigkeit des Kulturbegriffs von besonderem Interesse: Als Kulturdifferenzen verweisen Sprachdifferenzen einerseits auf unterschiedliche etablierte Arten und Weisen der Interpretation gesellschaftlicher und anderer Strukturen und Prozesse. Andererseits aber sind Sprachdifferenzen immer auch Anzeichen von potentiellen Konflikten darüber, wie gesellschaftlich Signifikanz konstituiert werden soll. Sie haben in diesem Sinne ein kulturpolitisches Potential. Die Untersuchung von Sprachdifferenzen im literarischen Text erlaubt Rückschlüsse auf beides. Damit wird insbesondere die (kultur-)politische ›Agency‹ von Literatur beschreibbar. Das Interesse für kulturpolitisch engagierte Formen der Literaturwissenschaft (insbesondere mit postkolonialem Hintergrund) für Mehrsprachigkeit rührt wahrscheinlich auch daher.
Literatur
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2. Sprachliche und kulturelle Identität
Till Dembeck
a) Begriffsbestimmung
Die sprachliche und damit auch kulturelle Bildung von Einheiten und ihre Konturierung durch Grenzziehung einerseits und die Subversion sprachlicher und kultureller Grenzen andererseits sind Grundoperationen von Literatur, deren Untersuchung unmittelbar Aufschluss über den kulturpolitischen Stellenwert von literarischer Mehrsprachigkeit verspricht. Diskutiert wird dies unter dem Schlagwort der Identität.
In die Kulturtheorie ist der Identitätsbegriff in erster Linie durch die Übertragung aus psychologischen Diskussionszusammenhängen eingegangen. Entscheidend ist hierbei die Auffassung, dass sich Identität nur durch Abgrenzung erzeugen lässt, so dass dem jeweils Ausgeschlossenen eine konstitutive Bedeutung für das Selbst zukommt. Diese Operation wird auch auf Gruppen bezogen und dann als Mechanismus der Konstruktion kultureller Identität bzw. Alterität beschrieben. BatesonBateson, Gregory spricht in diesem Zusammenhang von »Schismogenesis« (BatesonBateson, Gregory, »Culture Contact and Schismogenesis«). Die Zuschreibung von Andersartigkeit (›Othering‹) wird so zum Mechanismus der Stabilisierung von kultureller oder Gruppen-Identität.
Das wahrscheinlich