Группа авторов

Literatur und Mehrsprachigkeit


Скачать книгу

fassen. Einzelne dieser Kompetenzen oder ganze Komplexe von Kompetenzen verbinden das einzelne Individuum mit vielen anderen Individuen. Daraus ergibt sich aber keine segmentäre Gesellschaftsdifferenzierung, wie sie das nationale Paradigma aus dem Kulturbegriff abzuleiten versucht.

      Kulturelle ›Identitätspolitiken‹ sind immer mit Blick auf diejenigen kulturellen Kompetenzen zu beschreiben, die sie selektieren, und mit Blick auf die Signifikanz, die sie ihnen jeweils zumessen. Dies gilt für Individuen, deren Individualität sich nicht zuletzt durch die Selektion gesellschaftlicher Identitätsangebote konstituiert (siehe Parr, »Wie konzipiert«; LuhmannLuhmann, Niklas, »Individuum, Individualität, Individualismus«, 231–249), aber auch für Texte, die einerseits in Auseinandersetzung mit vorgängigen kulturellen Mustern Identität ausbilden, damit aber andererseits auch versuchen, selbst identitätspolitisch zu wirken. Dies muss für die kulturpolitische Analyse literarischer Mehrsprachigkeit beachtet und mit der potentiell identitätspolitischen Wertigkeit der im Text beschreibbaren Sprachdifferenzen in Verbindung gebracht werden, wenn die kulturpolitische ›Agency‹ der Werke beschrieben werden soll.

      Literatur

      Arens, HansArens, Hans, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1974 [1955].

      Arndt, SusanArndt, Susan/Dirk NaguschewskiNaguschewski, Dirk/Robert StockhammerStockhammer, Robert, »Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache«, in: Dies. (Hrsg.), Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur, Berlin 2007, S. 7–27.

      Bateson, GregoryBateson, Gregory, »Culture Contact and Schismogenesis«, in: Man 35 (1935), S. 178–183.

      Bonfiglio, Thomas PaulBonfiglio, Thomas Paul, Mother Tongues and Nations. The Invention of the Native Speaker, New York 2010.

      Coșeriu, EugenioCoșeriu, Eugenio, Einführung in die allgemeine Sprachwissenschaft, Tübingen 1988.

      Derrida, Jacques,Derrida, Jacques Schibboleth. Für Paul CelanCelan, Paul, übers. v. Wolfgang Sebastian Baur, Wien 2002 [1986].

      García, OfeliaGarcía, Ofelia, »Education, Multilingualism and Translanguaging in the 21st Century«, in: Ajit MohantyMohanty, Ajit (Hrsg.), Multilingual Education for Social Justice: Globalising the Local, New Delhi 2009, S. 128–145.

      Kraus, ManfredKraus, Manfred, »Sprachrichtigkeit«, in: Gert UedingUeding, Gert (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, Tübingen 2007, Sp. 1117–1133.

      Lecercle, Jean-JacquesLecercle, Jean-Jacques, The Violence of Language, London/New York 1990.

      Luhmann, NiklasLuhmann, Niklas, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt/M. 1989, S. 149–258.

      Makoni, SinfreeMakoni, Sinfree/Alastair PennycookPennycook, Alastair, »Disinventing and (Re)Constituting Languages«, in: Critical Inquiry in Language Studies. An International Journal 2.3 (2005), S. 137–156.

      Martyn, DavidMartyn, David, »› ‹« in: Jürgen FohrmannFohrmann, Jürgen (Hrsg.), Rhetorik. Figuration und Performanz, Stuttgart 2004, S. 397–419.

      Parr, Rolf, »Wie konzipiert die (Inter-)Diskurstheorie individuelle und kollektive Identitäten? Ein theoretischer Zugriff, erläutert am Beispiel Luxemburg«, in: forum 289 (September 2009), S. 11–16.

      Reisigl, MartinReisigl, Martin, »Solözismus«, in: Gert UedingUeding, Gert (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, Tübingen 2007, Sp. 959–990.

      Said, EdwardSaid, Edward, Orientalism, New York 1978.

      Sakai, Naoki,Sakai, Naoki »How Do We Count a Language? Translation and Discontinuity«, in: Translational Studies 2.1 (2009), S. 71–88.

      Stockhammer, RobertStockhammer, Robert, Grammatik. Wissen und Macht in der Geschichte einer sprachlichen Institution, Frankfurt/M. 2014.

      Trabant, JürgenTrabant, Jürgen, Europäisches Sprachdenken. Von PlatonPlaton bis WittgensteinWittgenstein, Ludwig, München 2006 [2003].

      Yildiz, YaseminYildiz, Yasemin, Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition, New York 2012.

      3. Einsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit

      David Gramling

      a) Begriffsbestimmung

      Es ist keinesfalls selbstverständlich, dass eine Unterscheidung zwischen Ein- und Mehrsprachigkeit getroffen werden kann, denn die setzt einen Begriff von ›Sprachigkeit‹ voraus, also die Vorstellung, es gebe einheitliche, klar voneinander unterscheidbare und damit ›zählbare‹ Sprachen (ArndtArndt, Susan/NaguschewskiNaguschewski, Dirk/StockhammerStockhammer, Robert, »Einleitung«, 26). Diese Vorstellung ist nicht nur Ergebnis komplexer historischer Prozesse, sondern überdies in systematischer Hinsicht für illusorisch erklärt worden.

      Für die Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit ist die genaue historische wie systematische Beschreibung der jeweils gegebenen Auffassungen von Ein- oder Mehrsprachigkeit bzw. von Sprachigkeit im allgemeinen vor dem Hintergrund des jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Rahmens unabdingbar. Einschlägig ist insbesondere das von der Forschung so benannte neuzeitliche »monolingual paradigm« (YildizYildiz, Yasemin, Beyond the Mother Tongue, 2), also die Auffassung, es sei natürlich, dass jedem Individuum genau eine Sprache eigen sei und dass es daher natürliche Sprachgemeinschaften gebe, die wiederum als Grundlage staatspolitischer Einheitenbildung genutzt werden können. Vor dem Hintergrund dieser Auffassung ist Mehrsprachigkeit nichts weiter als die Vervielfältigung von Einsprachigkeit. Nicht nur angesichts der Einsicht in die historische Gebundenheit des Einsprachigkeitsparadigmas, sondern auch aus systematischen Gründen ist es aber geboten, weitere Begriffe von Sprachvielfalt zu erschließen und genau zu verstehen, wie und auf welchen Grundlagen die neuzeitliche Politik der Einsprachigkeit funktioniert.

      b) Historische Bestandsaufnahme

      Seit ungefähr 350 Jahren tendieren die politischen Eliten Westeuropas dazu, sich die Welt kartographisch als Ensemble aneinandergrenzender und einander nicht überlappender, je für sich einsprachiger Territorien vorzustellen. Man nimmt dann beispielsweise an, es gebe einen Teil auf der Weltkarte namens Frankreich, in welchem man als sprechendes Subjekt logischerweise und völlig selbstverständlich die französische Sprache nutzt. Diese wiederum sei eine universal einsetzbare und semantisch flächendeckende Sprache, in welcher der nüchterne und ausgereifte Sprecher alles Sag- und Denkbare erörtern könne. Natürlich gesteht dieses Modell Ausnahmen zu – ›translinguale‹ Texte und Menschen –, die je nach Bedarf berücksichtigt und flexibel kategorisiert werden können. Diese individuellen Sonderfälle – Diplomaten, Übersetzer, Exilanten, Dolmetscher, subnationale Minderheiten, Götter, Zugewanderte, Schizophrene oder Gebärdensprecher – werden aber dann immer an ihrer jeweiligen Distanz zur territorialen ›Sprachigkeit‹ gemessen und entsprechend markiert (DorostkarDorostkar, Niku, (Mehr-)Sprachigkeit und Lingualismus). Mit dem britischen Sozialpsychologen Michael BilligBillig, Michael lässt sich also sagen, dass es erst in der Neuzeit zu einer Denknotwendigkeit geworden ist, davon auszugehen, man spreche etwas (BilligBillig, Michael, Banal Nationalism, 31). Im Rahmen der mehr oder weniger ›offiziellen‹ Ordnung von Sprachigkeit in der Gegenwart gilt daher, aller Rede vom »postmonolingualen Zustand« und von der Obsoletheit der Einsprachigkeitsideologie zum Trotz, weiterhin, dass die moderne Welt (Globalisierung, Interkulturalität, Kulturtransfer und Weltliteratur einbegriffen) zunächst aus parallelen, gleichwertigen und panfunktionalen Einsprachigkeiten besteht, die kollektiv, ordentlich und übersichtlich das globale Sprachsystem ausmachen. Mehrsprachigkeit gilt in diesem märchenhaften Denkmodell als absichtliche, strategische oder auch zufällige Erweiterung des natürlichen Zustands der Einsprachigkeit. Und literarische Mehrsprachigkeit sticht dann gleichsam aus ›unseren‹ einsprachigen Alltagsroutinen hervor als das edle Vermögen