Nationalsprachen zu den hypothetischen Ursprüngen des Indoeuropäischen. In diesem Sinne ist beispielsweise Jacob GrimmGrimm, Jacobs Deutsche Grammatik (1819–1840) geschrieben. Insgesamt herrscht im 19. und 20. Jahrhundert in Europa klar die Tendenz vor, die Einheit der Standardsprachen an die Einheit von Nation und Kultur zu binden und zugleich (siehe I.1) als Natur auszugeben.
Die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts findet mit der de SaussureSaussure, Ferdinand de’schen Differenzierung zwischen langue und parole die Möglichkeit, Spracheinheiten systematisch zu isolieren und als voneinander zu unterscheidende, in sich geschlossene Regelsysteme zu denken, die es jeweils ermöglichen, potentiell unendlich viele unterschiedliche grammatisch korrekte Sätze zu generieren. Zahllose Arbeiten der synchronen Sprachwissenschaft haben sich der Beschreibung der so greifbar gemachten langues der Welt gewidmet und damit indirekt auch sprachliche Identitätspolitik betrieben. Auch hier spielen Zusammenhänge mit den Prozessen der Kolonialisierung und der Dekolonialisierung eine gewichtige Rolle. Die nicht zuletzt linguistisch begründete Macht über Sprache(n) ist Werkzeug sowohl kolonialer Herrschaft als auch der Befreiung und der Re-Etablierung neuer Herrschaftsformen (vgl. MakoniMakoni, Sinfree/PennycookPennycook, Alastair, »Disinventing and (Re)Constituting Languages«).
Die Engführung sprachlicher, kultureller und nationaler Identität entfaltet in der Neuzeit eine so große Wirkmächtigkeit, dass sie in der Forschung nicht ganz zu Unrecht als »monolingual paradigm« (YildizYildiz, Yasemin, Beyond the Mother Tongue, 2) bezeichnet worden ist. Dennoch stellt sie nicht die einzige Form der sprachlichen und kulturellen Identitätspolitik in Europa dar. In der Sprachursprungstheorie HerderHerder, Johann Gottfrieds, die mit der Beschreibung eines sprachlich-kulturellen Identifikationsmechanismus’ einsetzt, werden Argumente artikuliert, die Zweifel an der Zählbarkeit, also an der Identifizierbarkeit aller Arten von Idiomen ins Spiel bringen. Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm vons sprachhistorisches Werk verweigert sich ebenfalls weitgehend der vorherrschenden Tendenz, aus Beschreibungen des Baus unterschiedlicher Sprachen weiter reichende kulturpolitische Wertungen abzuleiten, ähnlich später die Arbeiten Hugo SchuchardtSchuchardt, Hugos (vgl. TrabantTrabant, Jürgen, Europäisches Sprachdenken, 260–269; StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 344–348). Die durch Graziadio I. AscoliAscoli, Graziadio I. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründete Substratlinguistik erklärt die Differenz zwischen den unterschiedlichen Sprachen der indoeuropäischen Sprachfamilie durch Migration und die darauf folgende Verschmelzung indoeuropäischer mit anderen, heute nicht mehr existierenden Sprachen. Gegen die Vorstellung der zeitgenössischen indoeuropäischen Sprachforschung, welche die unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Sprachen als organische Fortentwicklung versteht, behauptet AscoliAscoli, Graziadio I. so die grundlegende Hybridität dieser Sprachen (ArensArens, Hans, Sprachwissenschaft, 369f., 473f.). Ähnliche Argumente lassen sich aus den Ergebnissen der späteren linguistischen Kreolforschung ableiten.
In der spätestens um 1900 sich etablierenden Disziplin der Ethnologie artikulieren sich Zweifel an den Voraussetzungen des Einsprachigkeitsparadigmas in erster Linie als Beobachtungsprobleme. Die Annahme, dass kulturelle und sprachliche Prägungen determinieren, was wir als bedeutsam wahrnehmen, führt in Verbindung mit der Vorstellung, es gebe sprachliche und kulturelle Grenzen, zu der generelleren Frage, wie sich andere Kulturen überhaupt beschreiben lassen. Bronislaw MalinowskiMalinowski, Bronislaws Forderung nach ›teilnehmender Beobachtung‹ hat dieses Problem, das sich ohnedies für jeden hermeneutischen Prozess stellt, allenfalls verschoben. Diese hermeneutische Dimension der ethnologischen Diskussion ist schließlich zum Anlass geworden, das ethnologische Beschreibungsinteresse selbst zu dekonstruieren. Dies geschieht beispielsweise in Edward SaidSaid, Edwards Analysen des Phänomens ›Orientalismus‹ (Said, Orientalism). Die sich damit andeutende ›Identitätsfalle‹, dass es kein Entkommen aus der Eingrenzung in das ›Eigene‹ gibt, man ihm aber entkommen muss, um dem ›Anderen‹ gerecht zu werden, prägt bis heute viele Debatten um kulturelle Identität.
c) Systematische Überlegungen
Ist die Geschichte des Identitätsbegriffs weitgehend dadurch geprägt, dass man unterschiedliche Bezugsbereiche gleichermaßen durch ihn zu erfassen und miteinander in Verbindung zu setzen versucht, so gilt es in systematischer Hinsicht zunächst zu differenzieren. Denn Identität bedeutet mit Blick auf Bewusstsein, Sprache, Kultur, soziale Systeme und Gruppen jeweils etwas anderes.
Die wissenschaftliche Verwendung des Identitätsbegriffs leitet sich aus der Psychologie her, er bezieht sich also ursprünglich auf Prozesse der Subjektkonstitution, wurde aber dann schnell auch auf Gruppendifferenzierung übertragen. Für die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit können beide Aspekte fruchtbar gemacht werden, wenn sie auf die soziale Einbettung von Autoren bezogen werden. Wichtiger ist aber zunächst die Frage, wie sprachliche und kulturelle Identität überhaupt zu beschreiben sind. Mit Blick auf Kultur ist vielfach davon die Rede, Identität sei immer nur ›konstruiert‹, also keinesfalls naturgegeben. Ähnliches gilt auch für Sprache, insbesondere für Standardsprachen, die das Ergebnis hochgradiger Normierungsbemühungen sind.
Von translationswissenschaftlicher Seite ist darauf hingewiesen worden, dass die Identität von Sprachen nur konstituiert werden kann, wenn mindestens zwei einander ko-figurative, d.h., ineinander übersetzbare Sprachen angenommen werden (vgl. SakaiSakai, Naoki, »How Do We Count a Language?«). Der linguistische Begriff der langue bezeichnet gerade dieses Moment der Ko-Figuralität. Entscheidendes Instrument der systematischen Schließung von Idiomen ist dabei wiederum die Identifizierung von Sprachrichtigkeit bzw. von Fehlern, deren Unterscheidbarkeit von rhetorischen Figuren allerdings von jeher in Frage steht (siehe hierzu auch MartynMartyn, David, »› ‹«). Gegen das Konzept der langue lassen sich auch auf anderen Ebenen Einwände vorbringen. So hat die Soziolinguistik, die sich für die soziale und kulturelle Einbettung der Sprachverwendung interessiert, darauf hingewiesen, dass auch viele Formen der ›schwachen‹ Regelhaftigkeit im Bereich der nicht-funktionalen Sprachgestaltung existieren, und für ihre Beschreibung einen weicheren Normbegriff vorgeschlagen (CoșeriuCoșeriu, Eugenio, Einführung, 293–302). Die Forschung zur Mehrsprachigkeit interessiert sich nicht mehr nur für den Wechsel, den mehrsprachige Sprecher zwischen unterschiedlichen, jeweils als langue zu beschreibenden Idiomen vollziehen (das sog. Code-Switching), sondern beschreibt mit dem »translanguaging« eine Form der Sprachverwendung, die eine klare Zuordnung zu unterschiedlichen langues unterläuft (vgl. GarcíaGarcía, Ofelia, »Education, Multilingualism and Translanguaging«). Von literaturwissenschaftlicher Seite ist vorgeschlagen worden, die (immer in unterschiedlichen Graden gegebene) Zuordenbarkeit sprachlicher Elemente und Strukturen zu einer langue mit dem Begriff »Sprachigkeit« zu bezeichnen (ArndtArndt, Susan/NaguschewskiNaguschewski, Dirk/StockhammerStockhammer, Robert, »Einleitung«, 26). Für den über die langue hinausgehenden strukturellen Überschuss der Sprachverwendung, also der parole im Sinne de SaussureSaussure, Ferdinand des, ist der Begriff »remainder« ins Spiel gebracht worden (LecercleLecercle, Jean-Jacques, The Violence of Language, 103–143), der für die spezifisch literarische Sprachverwendung eine zentrale Rolle spielt. Daher sollte sich gerade die kulturpolitische Interpretation literarischer Mehrsprachigkeit stets genau Rechenschaft darüber ablegen, welche Konstitutionsebenen von sprachlicher Identität in den behandelten Texten eine Rolle spielen.
Zumindest in de SaussureSaussure, Ferdinand des ursprünglichen Entwürfen stellt die langue (ebenso wie die eng mit ihrer Konstitution verbundene Differenzierung in Synchronie und Diachronie) eine bewusste Reduktion von Komplexität dar. Auch der Beschreibung von Kulturen als Ergebnis von »Schismogenesis« oder ›Othering‹ liegt eine solche – wenn auch allzu oft unbewusste – Reduktion von Komplexität zugrunde. Das ändert zwar nichts daran, dass entsprechende Semantiken erhebliche historische und gesellschaftsstrukturelle Folgen gezeigt haben. Allerdings umfasst jede kulturelle Abgrenzung durch ›Othering‹ in Wirklichkeit nur einen sehr geringen Teil der kulturellen Kompetenz der Beteiligten: Im Extremfall des Schibboleth wird die richtige oder falsche Aussprache eines einzelnen Phonems zum Entscheidungskriterium, aus dem weitreichende Konsequenzen abgeleitet werden. Anders als solche Formationen wie die von Niklas LuhmannLuhmann, Niklas beschriebenen Funktionssysteme der Gesellschaft verfügen die sog. ›Kulturen‹ nicht über die Fähigkeit, mittels universal einsetzbarer Leitdifferenzen klare Grenzen