Diese Operation ist unmittelbar mit Mechanismen der kulturellen Identitätsbildung verbunden. Sprachkompetenz ist in der europäischen Geschichte seit jeher Ausweis kultureller Zugehörigkeit. Mit Blick auf die Geschichte der Grammatik lässt sich behaupten: »Zur Grammatik gehört wesentlich eine Migrations- und Integrationspolitik« (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 318), die regelt, wer und was der jeweiligen Sprache zugehörig ist und wo demnach die Grenzen dieser Sprache zu anderen Idiomen verlaufen.
Gerade der Begriff der (Sprach-)Kompetenz verweist allerdings auch auf die Grenzen eines Begriffs von kultureller Identität, der auf der Operation der »Schismogenesis« aufbaut. Denn Sprachkompetenz muss in jedem Einzelfall als komplexes Gefüge von Fähigkeiten angesehen werden, die sich auf unterschiedliche Strukturebenen der Sprache und auf unterschiedliche Einzelsprachen beziehen können. Auch Kulturkompetenz umfasst im Einzelfall dann sehr divergente, nach Rollen und Gesellschaftsbereichen ausdifferenzierte Fertigkeiten. Daher wird im Folgenden vorgeschlagen, kulturelle Identitäten als je unterschiedlich definierte Bündel kultureller Fähigkeiten zu bestimmen, also als Bündel von Fähigkeiten, bedeutungsunterscheidende Differenzen erkennen und einsetzen zu können, insbesondere auch sprachliche.
b) Historische Semantiken sprachlicher und kultureller Identität
Der Geschichte des Kulturbegriffs ist von Beginn an eine Semantik der Gruppenidentität eingeschrieben. Die Wirkmächtigkeit von Unterscheidungen wie Hellenen/Barbaren, Christen/Heiden und Menschen/Unmenschen legt davon Zeugnis ab. Von Beginn an dienen dabei auch sprachliche Merkmale zur Identifikation von Gruppenzugehörigkeit. So besagt eine in der Antike und nachmals populäre Semantik des Begriffs ›Solözismus‹, er beziehe sich ursprünglich auf das durch Sprachmischung unsauber gewordene Griechisch der Anhänger des Solon im kilikischen Soloi (ReisiglReisigl, Martin, »Solözismus«, 960) – so dass der Solözismus als Fehler gilt, an dem man zumindest die Abschwächung der kulturellen Zugehörigkeit ablesen kann. Eine prominentere Parallelgeschichte hierzu findet sich im Buch der Richter (12, 5f.), das von der Ermordung der Ephraimiter erzählt, die man daran erkannte, dass sie das Wort ›Schibboleth‹ nur als ›Sibboleth‹ aussprechen konnten – wobei beide Varianten eigentlich als phonematisch identisch gelten (siehe DerridaDerrida, Jacques, Schibboleth, 59). Als ›Schibboleth‹ gilt noch heute jede lautliche Markierung kultureller Differenz.
Historisch betrachtet sind sehr unterschiedliche Kopplungen sprachlicher und kultureller Identitätsbildung zu beobachten. So ist es keineswegs zwingend, bereits dem antiken Griechenland die Konzeption von Sprache als Idiom, also als abgrenzbarer Einheit, zu unterstellen, so dass ein ›Solözismus‹ durchaus nicht notwendig kulturelle Fremdheit signalisiert, sondern eher eine territoriale Zugehörigkeit markiert. Dementsprechend offen zeigt sich AristotelesAristoteles für Abweichungen vom herrschenden Sprachgebrauch. ›Fremde‹, d.h., aus anderen dialektalen Zusammenhängen stammende Wörter, γλῶττα, werden analog zu Metaphern als Ergebnisse eines Übertragungsvorgangs angesehen (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 303–308).
Demgegenüber verleiht die Zweisprachigkeit des antiken Rom, die lange vor der Zeitenwende u.a. das Bedürfnis erzeugt, das Lateinische als Kultursprache aufzuwerten, der Kategorie der Sprachrichtigkeit eine neue Dimension (KrausKraus, Manfred, »Sprachrichtigkeit«, 1121). Anders als in der griechischen Antike kommt es daher spätestens im ersten Jahrhundert vor Christus zu einer Kodifizierung und Fixierung der Sprache (LeonhardtLeonhardt, Jürgen, Latein, 61–74) – und zugleich zu einem genaueren Bewusstsein für die Fremdheit anderer Idiome. Vergleicht bereits AristotelesAristoteles den Umgang mit Wörtern aus der Fremde mit Prozessen der Einbürgerung, so wird diese Metaphorik von Marcus Fabius QuintilianQuintilian, Marcus Fabius ausgebaut, der wörtlich von migrierenden Wörtern, verba peregrina, spricht (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 307f., 317–322). Im Detail wird nun diskutiert, wie fremde Wörter zu flektieren seien und inwiefern beispielsweise im Interesse der metrischen Form Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit, die latinitas, gerechtfertigt sein können. QuintilianQuintilian, Marcus Fabius, dessen Institutio Oratoria wirkmächtig die Vergleichbarkeit von (immer ›verfremdenden‹) rhetorischen Figuren und grammatischen Fehlern herausstellt (und im selben Atemzug durch die strikte Trennung von Rhetorik und Grammatik wieder zu kassieren sucht), bemüht sich ausführlich um eine Klassifizierung der Barbarismen, die sich im Übrigen als identisch erweist mit derjenigen, die er für Figuren der Rede vorsieht (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 313–316). Die Problematik der Unterscheidung von Figur und Fehler lässt so den Status des sprachlich Fremden selbst unsicher werden: die gute Rede ist auf fremde Strukturen angewiesen, obwohl diese zugleich die Einheit des Idioms gefährden.
Die christliche Aneignung des Lateinischen (und seiner Schrifttradition) in der Spätantike und im Mittelalter schreibt zwar einerseits die Semantik der latinitas und der Barbarismen fort, zeigt aber andererseits eine gewisse Toleranz gegenüber abweichenden Sprachformen im Lateinischen. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass schon AugustinusAugustinus von Hippo die perspicuitas, also die Transparenz des sprachlichen Ausdrucks, vor allem auf die sprachunabhängige Botschaft des Glaubens hin, höher wertet als seine puritas, also die Reinheit (ReisiglReisigl, Martin, »Solözismus«, 970). In der hierin zum Ausdruck kommenden Sprachtheorie mag der Grund dafür liegen, dass im Mittelalter das Interesse an einer Systematisierung sprachlicher Fehler und Abweichungen gegenüber der römischen Antike stark abnimmt – eine Tendenz, die sich in der Neuzeit weiter fortsetzt (ReisiglReisigl, Martin, »Solözismus«, 974). Gleichwohl ist das Lateinische als Sprache des Glaubens entscheidender Identifikationsfaktor des mittelalterlichen Abendlandes, und der Erhalt der Sprache in ihrer standardisierten Form (etwa durch die karolingischeKarl der Große Bildungsreform) oder ihre Weiterentwicklung im Sinne der christlichen Theologie (etwa durch die Scholastik) hat auch die Funktion, kulturelle Einheitlichkeit zu gewährleisten.
Ein neuer Impetus zur Befestigung sprachlich-kultureller Grenzziehungen ist ab dem Spätmittelalter festzustellen, und zwar sowohl mit Blick auf das Lateinische als auch mit Blick auf die Volkssprachen, deren Emanzipation ja – schon nach dem Programm ihres Vordenkers Dante AlighieriDante Alighieri – in erster Linie Standardisierung zum Ziel hat. Die durch den Humanismus, etwa durch Lorenzo VallaValla, Lorenzo und Erasmus von RotterdamErasmus von Rotterdam, propagierte Rückbindung des Lateinischen an die antiken Vorbilder ist dabei nicht nur als sprachliche, sondern auch als kulturelle Reinigung aufzufassen. Sie umfasst weniger die im engeren Sinne grammatische, als vielmehr die idiomatische Seite der Sprache und steht letztlich im Zeichen einer abendländischen Identitätspolitik, die sich aus dem fremd gewordenen Ursprung in der Antike speist.
Im Zuge der Standardisierung der Volkssprachen kommt es insbesondere zu einer Systematisierung der Begrifflichkeit, mit der unterschiedliche Idiome kategorisiert werden können. Genauer verfestigt sich die Differenz zwischen Sprachen und Dialekten, wobei den Dialekten all jene Eigenschaften der Volkssprachen zugerechnet werden, die die Heiligen Sprachen überwunden hatten: Dialekte gelten als tendenziell regellos, schwer fixierbar, kontinuierlich ineinander übergehend. Zunehmend national definierte (Standard-)Sprachen hingegen können eine Grenze für sich beanspruchen, die sie von anderen nationalen Sprachen unterscheidet. Sprachen gelten als zählbar, Dialekte als zahllos, aber immerhin einer (und zwar genau einer) Sprache zugehörig, in der sie aufgehoben sind (vgl. BonfiglioBonfiglio, Thomas Paul, Mother Tongues and Nations, 63–121). Die klare Differenzierung zwischen Sprache und Dialekt ist klar kulturpolitisch motiviert: Spracheinheit ist nur denkbar, wenn die dialektale Entgrenzung eingehegt wird.
Als Folge der Kolonialisierungspolitik vieler europäischer Staaten steigt im 18. und 19. Jahrhundert die Zahl der in Europa bekannten Sprachen und es ergeben sich identitätspolitisch folgenreiche weitere Differenzierungen: zum einen zwischen den europäischen Kultursprachen und den angeblich ›ursprünglicheren‹ Sprachen vieler kolonisierter Völker; zum anderen zwischen unterschiedlichen Formen des Standardisierungsdrucks. Ist es für die europäischen Volkssprachen entscheidend, die interne dialektale Zerstreuung zu überwinden, so müssen die Sprachen beispielsweise der neuen Welt erst passfertig gemacht werden, um mit den Mitteln der europäischen, grundsätzlich an das Lateinische angelehnten Grammatik kontrolliert werden zu können. Die Erforschung der indoeuropäischen Sprachverwandtschaft im 19. Jahrhundert gibt der europäischen Kulturpolitik