Sprachliche Höflichkeit
Historische, aktuelle und künftige Perspektiven
Claus Ehrhardt / Eva Neuland
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0069-4
Einleitung
Sprachliche Höflichkeit. Historische, aktuelle und künftige Perspektiven
Vorwort
Claus Ehrhardt/Eva Neuland
Sprachliche Höflichkeit ist seit einiger Zeit wieder ein aktuelles Thema in der Öffentlichkeit geworden: Klagen über mangelnde Höflichkeit bis hin zu einem „Verfall“ von Sitten und Ausdrucksweisen finden sich mit sprachpflegerischem Tenor in der Presse und auf dem kulturkritischen Buchmarkt. Verantwortlich gemacht werden Politiker, Fernsehmoderatoren und vor allem Jugendliche, ihre Eltern und Lehrkräfte. Die wachsende Bedeutung neuer Medien und die zunehmenden Sprach- und Kulturkontakte in vielen Lebensbereichen sowie die erforderliche interkulturelle Kommunikation scheinen das Problem noch zu verschärfen und Klärungen zum „richtigen“ Umgang mit Höflichkeit zu verlangen.
Das lebhafte öffentliche Interesse und die z.T. kontroversen Diskussionen (vgl. z.B. den Beitrag von Roth in diesem Band) lassen es wünschenswert erscheinen, das Thema „Höflichkeit“ auch aus wissenschaftlicher Sicht neu zu beleuchten und den öffentlichen Diskurs durch den Verweis auf aktuelle wissenschaftliche Beschreibungs- und Erklärungsmodelle der sprachlichen Höflichkeit, ihrer Ausdrucks- und Wirkungsformen im kulturellen Wandel zu bereichern. Darüber hinaus bietet die Aktualität und gesellschaftliche Relevanz des Themas auch die Chance, die wissenschaftliche Theoriebildung an die gesellschaftliche Realität anzunähern, die eigene Empirie zu vertiefen und Methoden der Beschreibung und Analyse zu erweitern bzw. zu verfeinern. Sprachliche Höflichkeit hat sich in diesem Sinne in den letzten Jahren als ein zentrales Thema in den Sprach- und Kulturwissenschaften, der linguistischen Pragmatik, der Soziolinguistik und der interkulturellen Kommunikationsforschung herauskristallisiert und etabliert. Sowohl in theoretischer und empirischer als auch anwendungsorientierter Perspektive bietet das Thema überdies zahlreiche interdisziplinäre Facetten.
Einige dieser Themen sind in den vergangenen Jahren auf internationalen Konferenzen diskutiert, klassische Modelle der Gesichtsarbeit modifiziert und empirische Zugänge differenziert worden. Dies dokumentieren u.a. zwei von den Herausgebern dieses Sammelbandes vorgelegte Publikationen aus den Jahren 2009 und 20111. Der Präsentation des aktuellen Forschungsstandes, verbunden mit historischen und künftigen Perspektiven, widmete sich eine jüngste internationale Fachkonferenz, die die beiden Herausgeber im Herbst 2016 an der Bergischen Universität Wuppertal mit Unterstützung der DFG durchführen konnten. Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Ergebnisse.
Experten aus 15 Nationen stellen ihre Forschungsergebnisse in Forschungstheorie und -praxis zur Diskussion und informieren über aktuelle Entwicklungstendenzen der Höflichkeit im Deutschen in ausgewählten Anwendungsfeldern des beruflichen wie privaten Alltags, interkulturellen Begegnungen und kritischen Kommunikationssituationen. Die Beiträge thematisieren kulturhistorische Dimensionen, erörtern aktuelle Tendenzen der Theoriebildung, Ergebnisse kontrastiver Analysen und stellen Erscheinungsweisen in neuen Medien, in Werbung und im Schulalltag vor. Sie vermitteln Erkenntnisfortschritte und Impulse für die künftige Forschung und Anregungen für Sprachbildung und Sprachunterricht, auch für Deutsch als Fremdsprache.
Die Herausgeber bedanken sich bei allen Kollegen, die an der Tagung teilgenommen und an dieser Publikation mitgewirkt haben. Der DFG, dem DAAD, der Bergischen Universität Wuppertal und der Università di Urbino sei die finanzielle Unterstützung gedankt, die eine Beteiligung von zahlreichen Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland und den produktiven Austausch ermöglicht hat.
Eva Neuland, Claus Ehrhardt
Wuppertal, Urbino im Oktober 2017
Die Unhöflichkeit der Verhältnisse
Jürgen Roth
Höflichkeit ist ein in unserem Alltag allgegenwärtiges Phänomen, das sich nicht nur in unserem nichtsprachlichen Verhalten äußert, sondern auch in unserer mündlichen und schriftlichen Kommunikation. In der Regel ist sprachliche Höflichkeit mit der jeweiligen Kommunikationssituation und Textfunktion vereinbar.
Deutsche Sprache – Zeitschrift für Theorie Praxis Dokumentation 2/2003
Die Sprache verkommt, und das Leben verkommt auch, die feinen Unterschiede verschwinden, der grobe Keil wird getrieben, bald gibt es keine Höflichkeitsform, keinen Irrealis mehr, weder in der Grammatik noch im Umgang der Menschen untereinander.
Ludwig Harig, Die Zeit, 11. Juli 1986
Angesichts der allbekannten nahezu allseitigen, beinahe epidemischen VerrohungVerrohung und Verwüstung der alltäglichen Kommunikation in den sogenannten sozialen Medien und in den Kommentarspalten im Internet – sowie, möchte ich ergänzen, denn auch dies ist ex negativo eine elementare Frage sprachlicher Höflichkeit, in Anbetracht der Erosion des Sprachbewußtseins, des Stils, des Ausdrucks, der Flexionsformen und der Orthographie – „warnte“ der Bayerische Lehrerverband BLLV laut taz vom 8. September 2016 „vor der Auswirkung haßerfüllter Sprache auf Kinder“. In einem Manifest mit dem Titel „Haltung zählt“ ließ er verlauten: „Wir beobachten mit größter Sorge, wie sich die Stimmung in den sozialen Netzwerken und die alltäglichen Umgangsformen in unserer Gesellschaft verändern“, und man nehme eine „zunehmende Aggressivität gegenüber Andersdenkenden, Ausländern und Flüchtlingen wahr“.
Auch der Kulturwissenschaftler Thomas Mießgang diagnostizierte in seinem 2013 erschienenen Buch Scheiß drauf – Die Kultur der Unhöflichkeit (Berlin) eine „Zunahme (einen Tsunami?) an Grobheit, an Aggressivität, an schlechten oder gar keinen Manieren in den urbanen Räumen und den medialen Phantasmagorien, die die sozialen Milieus überformen“. „Die moderne Gesellschaft hat kein Konzept mehr für Würde, Wert oder Anerkennung“, heißt es an anderer Stelle. „Die Arbeitswelt […] hat sich seit den prosperierenden Nachkriegsjahrzehnten mit ihren deutlichen Verbesserungen der Bedingungen für Arbeitnehmer in der Krisenepoche in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem ein permanenter Psychokrieg ausgefochten wird“, die soziale Interaktion gleiche einem „Eliminationsspiel“, dem selbstredend alles Spielerische fehlt, und auf den „sozialen Plattformen“ seien derart viele „innovative Formen der niederträchtigen Beleidigung und der perfiden Bloßstellung von Mitmenschen“ zu besichtigen, daß man „ein Horrorpanorama der prä- oder, wenn man so will, postzivilisatorischen Niedertracht“ gewahre.
Der, zum dritten, Soziologe Colin Crouch, Autor des Standardwerks Post-Democracy, beschreibt in Le Monde diplomatique vom August 2015, wie im Zuge der neoliberalneoliberalen Kolonisation öffentlicher Dienstleistungssektoren und ihrer Verwandlung in angeblich so weise wie effiziente Märkte der Begriff und das Konzept des Bürgers entsorgt und durch den allgegenwärtigen „KundenKunden“ ersetzt wurde – eine lexikalische Verschiebung, in der sich – verschleiert – nicht allein der Verlust oder die intendierte Zerstörung von Dezenz und Rücksichtnahme ausdrückt.
„Was bedeutet es, wenn im Bahnhof heute statt ‚Passengers for Manchester please change at Birmingham‘ die Durchsage ‚Customers for Manchester …‘ erklingt?“ fragt Crouch und fährt fort: „Eine durchaus zweifelhafte Formulierung, da man annehmen könnte, daß die ‚customers for Manchester‘