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Sprachliche Höflichkeit


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KundenKunden, nicht mehr als Gäste, denen man zuvorkommend begegnet, nach Belieben und aufdringlich angeduzt und gegängelt, entrechtet, überwacht, gegeneinander ausgespielt und ausgenommen werden können. Das Wort „KundeKunde“, der einer Legende zufolge König sei, also ist eine klassische AntiphraseAntiphrase. „Erst ihre Verwandlung in KundenKunden“, so Crouch, „macht sie [die vormaligen Bürger] tatsächlich zu Ausbeutungsobjekten.“

      Soweit ich es einzuschätzen vermag, ist der Terminus „face-threatening acts“ oder „FTAs“ von Brown und Levinson (1987) in der linguistischen Höflichkeitsforschung in gewisser Weise kanonisch geworden. Umgekehrt „bezeichnet Höflichkeit ein Verhalten, bei dem das Gesicht des Gegenübers gewahrt wird. Dieser Respekt vor dem anderen befriedigt zwei grundlegende Bedürfnisse: zum einen das Verlangen nach Ungestörtheit und Handlungsfreiheit, zum anderen das nach Anerkennung“ (Bild der Wissenschaft 1/2013).

      Zu kurz kommen bei der formalpragmatischen Herangehensweise und zumal in Browns und Levinsons harmonistischer Perspektive allerdings zahlreiche kontext- und milieubedingte Aspekte von Unmanierlichkeit, Ausgrenzung, Diskriminierung und, vice versa, Achtsamkeit, Freundlichkeit, Zuwendung.

      Beispielsweise werden unter Jugendlichen deviante, ironisch entstellte Höflichkeits- und Unhöflichkeitsvorstellungen gepflegt. „Eine Bitte“, legt Susanne Donner in Bild der Wissenschaft dar, „verstehen die Jugendlichen als Herausforderung, den Wunsch dem Bittsteller so lange wie möglich auszuschlagen. Er wird ignoriert, oder die Jugendlichen erfinden fiktive Gegenargumente. Je unterhaltsamer diese sind, sprich: je mehr es zu lachen gibt, um so besser. […] Nach Brown und Levinson ist jede ausgeschlagene Bitte eine massive Gesichtsverletzung. Doch: ‚Die Jugendlichen empfinden das Gefrotzel untereinander nicht als unhöflich‘, weiß [Martin] Hartung [vom Mannheimer Institut für Gesprächsforschung]. ‚Es ist ihre Form der alltäglichen Kommunikation.‘ Und sie wissen sehr wohl, daß sie nur in der Clique so miteinander umspringen können.“

      Oder ein anderes Beispiel. Regional und dialektal begrenzt finden sich rüdeste Schmähungen, die das Gegenteil dessen bedeuten, was mit den Gepflogenheiten nicht Vertraute verstehen. Im fränkischen Sprachraum etwa gelten zahlreiche Invektiven keineswegs als Beleidigungen. In einer Familie, die ich gut kenne, ist die Anrede „Arschlöchlein!“ die höchste Form der verbalen Liebkosung – ein Paradeexempel für die „kosende Schelte“ (Friedrich Kur: How to use Dirty Words – Schimpfwörter und Beleidigungen, Frankfurt/Main 1997).

      Gewiß, es gibt Wörter und Wendungen „von unüberbietbarer Brutalität und Gemeinheit“ (Kur), das vor nicht allzulanger Zeit kurrente „Du Scheißopfer!“ läßt einen schaudern. Solch „sprachliches Verhalten oder Handeln im Affekt“ (Kur) will treffen, verletzen, schädigen, bisweilen vernichten, obwohl „schimpfen“ ursprünglich „Scherz treiben, spielen, verspotten“ bedeutet hat, das Schimpfen diente der Kurzweil.

      „Das Schimpfen gehört ganz gewiß zur ‚Grundausstattung‘ des animal loquens“, heißt es bei Friedrich Kur, der betont, daß Kraftwörter aus „Frust, Wut, Enttäuschung, Liebeskummer und zur Selbstbehauptung in allen möglichen Widrigkeiten des Lebens hilfreich sein können“. Sie entlasten und vermögen dem berechtigten Widerstand gegen Zumutungen und Übergriffe aller Art Ausdruck zu verleihen (Mießgang stuft Unhöflichkeit „auch [als] eine Form des symbolischen Klassenkampfes“ ein), und es ist kaum von der Hand zu weisen, „daß die strategischen Gründe für Unhöflichkeit eines erwischten Parksünders andere sind als die eines Militärausbilders“ (Gesprächsforschung Online – Zeitschrift zur verbalen Interaktion, Nummer 12, 2011). Gezielte verbale Verletzungen wären somit hinsichtlich der jeweiligen sozialen Rollen, der Machtgefüge und -gefälle, der institutionellen Rahmenbedingungen, nicht zuletzt hinsichtlich der situativen Variabilität zu betrachten – Wolfgang Frühwald nennt als Kriterien „Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprachmelodie“ (Forschung und Lehre 6/2010); genauso wie, ohne Dialektik kommt man schwerlich aus, Höflichkeit, bereits Knigge monierte es, reine Heuchelei oder eine Demütigung sein kann. Es gebe, schrieb er, „eine Art von Herablassung, die wahrhaftig kränkend ist, wobei der leidende Teil offenbar fühlt, daß man ihm nur ein mildtätiges Almosen der Höflichkeit darreicht. Endlich gibt es eine abgeschmackte Art von Höflichkeit, wenn man nämlich mit Leuten von geringerm Stande eine Sprache redet, die sie gar nicht verstehen, die unter Personen von der Klasse gar nicht üblich ist, wenn man das konventionelle Gewäsche von Untertänigkeit, Gnade, Ehre, Entzücken und so ferner bei Personen anbringt, die an solche starken Gewürze gar nicht gewöhnt sind. Dies ist der gemeine Fehler der Hofleute.“ Und im Grünen Heinrich von Gottfried Keller stoßen wir auf folgende Passage: „Schon die Sprache, welche der große Haufen in Deutschland führt, war ihnen unverständlich und beklemmend; die tausend und abertausend „Entschuldigen Sie gefälligst, Erlauben Sie gütigst, Wenn ich bitten darf, Bitt‘ um Entschuldigung“, welche die Luft durchschwirrten und bei den nichtssagendsten Anlässen unaufhörlich verwendet wurden, hatten sie in ihrem Leben nie und in keiner anderen Sprache gehört, selbst das ‚Pardon Monsieur‘ der höflichen Franzosen schien ihnen zehnmal kürzer und stolzer, wie es auch nur in dem zehnten Falle gebraucht wird, wo der Deutsche jedesmal um Verzeihung bittet. Aber durch den dünnen Flor dieser Höflichkeit brachen nur zu oft die harten Ecken einer inneren Grobheit und Taktlosigkeit, welche ebenfalls ihren eigentümlichen Ausdruck hatten.“

      Um die Konfusion weiter zu vergrößern: Das Bemühen um politische KorrektheitKorrektheit (und damit Höflichkeit), um die Ächtung gesellschaftlicher Exklusion und denunziatorischer respektive diskriminierender Sprechakte, ist nicht selten selbst hochgradig deplaziert, restringierend, herrisch und narzißtisch. Da wird sehr rasch vielerlei übersehen und verdrängt. „Ist die schwarze Community […] unter sich“, führt Thomas Mießgang aus, „kann das N-Wort durchaus zu einer kameradschaftlich-freundlichen Begrüßungsformel umsemantiert werden, zu einem wohlwollend-grobianischen Schulterklopfen, das vom geteilten Wissen über den Rassismus genauso erzählt wie von der Überwindung diskriminierender Diskurse in der ironischen Sprachverdrehung. Eine als Beleidigung intendierte Geste oder Wortprägung wird also dem Aggressor entrissen […] und von den Insultierten als positiv besetzte Kommunikationsformel verwendet oder gelegentlich sogar als Kampfwerkzeug gegen die Beleidiger eingesetzt.“

      Hinzu kommt, daß durch die Bestrebungen, das öffentliche Sprechen nach Maßgaben der Political Correctness zu reinigen – und ich wähle bewußt das Wort „reinigen“ –, „bei nicht wenigen jungen Menschen das Verständnis von Ambivalenz und Ironie in Mitleidenschaft gezogen wird; daß die bloßstellende und befreiende Gewalt des uneigentlichen Sprechens und die Freuden der Disziplinlosigkeit einer ständigen, irgendwie protestantischen Selbstüberprüfung zum Opfer fallen, kurz: daß dem Lachen mißtraut wird“ (Titanic 6/2016). Verloren geht die Möglichkeit der Selbstreflexion und -relativierung qua Spaß und Sprachspiel, sauertöpfische Besserwisserei, die zum eliminatorischen Furor ausarten kann, gewinnt die Oberhand.

      Wenig zu lachen haben mittlerweile auch einige Verfechter der akademischen Lehre in Freiheit. Unter der Überschrift „Gefühlte Argumente“ berichtete der Schriftsteller Ilija Trojanow am 27. April 2016 in der taz von einem „Kampf […], der inzwischen auf fast jedem Campus der USA entbrannt ist“. Geführt werde er „unter dem nichtssagenden Titel der ‚politischen KorrektheitKorrektheit‘“. „Immer öfter wird Sprachkritik zur Wortpolizei und diskursive Vielfalt zur dogmatischen Einfalt“, so Trojanow.

      Und er erzählte von folgendem Vorfall: „Landesweit bekannt wurde ein Fall an der renommierten Yale University vom letzten Herbst. Die universitäre Verwaltung hatte vor Halloween in einem Rundbrief die StudentInnen aufgefordert, auf potentiell beleidigende Kostüme zu verzichten (das bezog sich konkret auf das ‚blackfacing‘, bei dem sich Weiße das Gesicht schwarz anmalen). Eine Dozentin verfaßte daraufhin eine Mail, in der sie mehr Lockerheit anregte, die Fahne der freien Meinungsäußerung schwenkte und die Sorge äußerte, daß Colleges zu Horten der ‚Zensur und Entmündigung‘ würden. ‚Gibt es keinen Platz mehr für einen jungen Menschen, ein wenig anstößig zu sein?‘ Daraufhin tobte ein Shitstorm, und die Frau sowie ihr Ehemann, Professor an derselben Universität, sahen sich heftigsten Angriffen ausgesetzt.“

      Äußerst aggressiv sei die Forderung erhoben worden, „das Ehepaar zu entlassen“. Und das sei beileibe kein Einzelfall