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Sprachliche Höflichkeit


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      Wie Höflichkeitskonstruktionen in kommunikativen Akten entstehen, kann man sich modellhaft (und das heißt: vereinfachend) wie folgt vorstellen:

      Schema 2

      Eine Aktion eines Kommunikanten A verfolgt hinsichtlich eines Kommunikanten B eine bestimmte (bewusste oder unbewusste) Intention (z.B. jd. geneigt zu machen / jd. zu etwas veranlassen) und versucht diese Intention höflich, d.h. mit Distanz oder Respekt an B zu vermitteln. Dabei orientiert sich A an geltenden Normen oder erfahrungsgestützten Regeln der Höflichkeit (z.B. jdm. nicht zu nahe treten) und wählt nach Einschätzung der aktuellen Kommunikationssituation (z.B. soziales Gefälle, formell vs. informell) diejenigen Ausdrucksmittel sprachlicher und / oder nichtsprachlicher Qualität aus, von denen er glaubt, dass er damit erfolgreich ist, ohne damit die vorausgesetzte Beziehung zwischen A und B (hier: Distanz / Respekt) in Frage zu stellen. Das Verhalten von A erzeugt dann, wenn adäquat wahrgenommen und verstanden, bei B einen Eindruck nicht nur von dem, was A von ihm will, sondern auch von dessen Höflichkeitskompetenz, Situationseinschätzung und dem vorausgesetzten Beziehungsverhältnis, das nicht in Frage gestellt werden soll. Die daraus abgeleitete Reaktion von B kann dann die gesamte Konstellation bestätigen, aber auch partiell oder im Ganzen korrigieren, was wiederum von A zu verarbeiten ist und so in folgenden kommunikativen Schritten zu weiteren Aktionen und Reaktionen bzw. entsprechenden, eventuell modifizierten Interpretationen auf beiden Seiten Anlass geben kann. Vieles von diesen rekursiv anwendbaren Prozessen wird dabei nicht sichtbar gemacht, sondern nur aus bestimmten Anzeichen (z.B. Tonfall, Gebrauch von Modalpartikeln) erschlossen; aber es ist natürlich auch möglich und keineswegs selten, dass Divergenzen durch metakommunikative Thematisierung sichtbar gemacht und verhandelt werden.

      Ich wähle ein literarisches Beispiel des späten 19. Jahrhunderts, das ich in anderen Zusammenhängen schon ausführlicher diskutiert habe: den Beginn des Romans „Am Rio de la Plata“ von Karl May (1894).1 Die dort in Form einer Ich-Erzählung dargestellte, relativ abgeschlossene Szene umfasst drei Schritte:

      1 Besuch eines Unbekannten im Hotel des Erzählers mit auffällig übertriebener („überhöflicher“) Begrüßung und Unterbreitung eines noch unbestimmten Angebots, das sich letztlich als delikat (Waffenhandel, Bestechung) erweisen sollte:

      Eben setzte ich den Hut auf, als es an meine Tür klopfte. Ich rief herein, und zu meinem großen Erstaunen trat ein fein nach französischer Mode gekleideter Herr ein. Er trug eine schwarze Hose, eben solchen Frack, weiße Weste, weißes Halstuch, Lackstiefel und hielt einen schwarzen Zylinderhut in der Hand, um welchen ein weißseidenes Band geschlungen war. Dieses Band, von welchem zwei breite Schleifen herabhingen, brachte mich unerfahrenen Menschen auf die famose Idee, einen Kindstauf- oder Hochzeitsbitter vor mir zu haben. Er machte mir eine tiefe, ja ehrerbietige Verneigung und grüßte:

      „Ich bringe Ihnen meine Verbeugung, Herr Oberst!“

      Er wiederholte seinen tiefen Bückling noch zweimal in demonstrativ hochachtungsvoller Weise. Wozu dieser militärische Titel? Hatte man hier in Uruquay vielleicht dieselbe Gepflogenheit wie im lieben Österreich, wo die Kellner jeden dicken Gast ‚Herr Baron‘, jeden Brillentragenden ‚Herr Professor‘ und jeden Inhaber eines kräftigen Schnurrbartes ‚Herr Major‘ nennen? Der Mann hatte so ein eigenartiges Gesicht. Er gefiel mir nicht. Darum antwortete ich kurz:

      „Danke! Was wollen Sie?“

      Er schwenkte zweimal den Hut hin und her und erklärte:

      „Ich komme, mich Ihnen mit allem, was ich bin und habe, zur geneigten Verfügung zu stellen.“

      1 Prüfung des Angebots durch den von Beginn an misstrauischen Erzähler und Versuch einer Klärung der Situation:

      Dabei richtete sich sein Auge von seitwärts mit einem scharf forschenden Blick auf mich. Er hatte keine ehrlichen Augen.

      Darum fragte ich: „Mit allem, was Sie sind und haben? So sagen Sie mir zunächst gefälligst, wer und was Sie sind.“

      „Ich bin Señor Esquilo Anibal Andaro, Besitzer einer bedeutenden Estanzia bei San Fructuoso. Euer Gnaden werden von mir gehört haben.“

      Es kommt zuweilen vor, daß der Name eines Menschen bezeichnend für den Charakter desselben ist. Ins Deutsche übersetzt, lautete derjenige meines Besuches Äschylus Hannibal Schleicher. Das war gar nicht empfehlend.

      „Ich muß gestehen, daß ich noch nie von Ihnen gehört habe“, bemerkte ich. „Da Sie mir gesagt haben, wer und was Sie sind, darf ich wohl auch erfahren, was Sie haben, das heißt natürlich, was Sie besitzen?“

      „Ich besitze erstens Geld und zweitens Einfluß.“

      Er machte vor den beiden Worten, um sie besser ins Gehör zu bringen, eine Pause und sprach sie mit scharfer Betonung aus. Dann sah er mich mit einem pfiffigen, erwartungsvollen Augenblinzeln von der Seite an. Sein Gesicht war jetzt ganz dasjenige eines dummlistigen, dreisten Menschen.

      1 Die Klärung der Situation (Verwechslung) führt dann zu einer tendenziell aggressiven Haltung (Erregung) beim Besucher, der wiederum der Erzähler mit „kalter“ Höflichkeit begegnet:

      Da rief er zornig: „So hole Sie der Teufel! Warum sagten Sie das nicht sogleich?“

      „Weil Sie nicht fragten. Ihr Auftreten ließ mit Sicherheit schließen, daß Sie mich kennen. Erst als Sie von den Gewehren sprachen, erkannte ich, wie die Sache stand. Dann habe ich Sie sofort auf Ihren Irrtum aufmerksam gemacht, was Sie mir hoffentlich bestätigen werden.“

      „Nichts bestätige ich, gar nichts! Sie hatten mir nach meinem Eintritt bei Ihnen sofort und augenblicklich zu sagen, wer Sie sind!“

      Er wurde grob. Darum antwortete ich in sehr gemessenem Ton:

      Ich ersuche Sie um diejenige Höflichkeit, welche jedermann von jedermann verlangen kann! Ich bin nicht gewöhnt, mir in das Gesicht sagen zu lassen, daß mich der Teufel holen sollte […].

      Die so entwickelte AggressivitätAggressivität auf beiden Seiten führt dann zur Artikulation verdeckter und offener Vorwürfe (Unterstellung von Heuchelei) und zum Abgang des Besuchers nach Austausch von intentional gesichtswahrenden Drohungen und Gegendrohungen.

      Die literarische Form des Textes macht es hierbei möglich, die sich wandelnde Situationseinschätzung wenigstens des Erzählers fortlaufend miteinzuarbeiten. Interessant ist auch, wie stark dabei nonverbale und paraverbale Höflichkeitstechniken (Kleidung, Gestik, Mimik, Betonung) neben klassischen sprachlichen Mitteln (Titulaturen, performative Formeln wie geneigt u.ä.) eingesetzt werden2 und wie dann die schrittweise Veränderung der sozialen Beziehungen, die vor allem vom Erzähler und von dessen durch Skepsis bestimmten, wenig entgegenkommenden (eher unhöflichen) Reaktionen ausgeht, durch entsprechende Interpretationen (ehrerbietig, eigenartig, [nicht] ehrlich, dummlistig, dreist / vertraulich, erstaunt, ernst, verlegen, zornig, grob) signalisiert und gesteuert wird. Höflichkeit und UnhöflichkeitUnhöflichkeit bzw. GrobheitGrobheit als gemeinsam konstruierte Beziehungskonzepte werden zudem in ihrer Ambivalenz sichtbar gemacht: Höflichkeit kann darauf abzielen, einen persönlichen Zugang zu öffnen, aber auch (so im Beschluss der Szene durch den Erzähler), jemand kalt „abfahren“ zu lassen; Unhöflichkeit kann zunächst noch positiv als List der Verstellung verstanden werden, dient aber letztlich dazu, die Illusion einer freundlichen Beziehung zu zerstören und AggressivitätAggressivität zu entfalten.

      3. Regional und sozial bedingte Differenzen von Höflichkeitsstilen

      Höflichkeitskonzepte und ihre Umsetzung im kommunikativen Alltag dienen also primär der Beziehungssteuerung zwischen den Beteiligten auf einem bestimmten Niveau und orientieren sich dabei an anthropologischen und kulturhistorischen Voraussetzungen, die durch praktische Erfahrungen bestätigt und sekundär durch fixierte Regeln kontrolliert werden können. Nicht immer wird jedoch Höflichkeit im sozialen Handeln benötigt.