Produkt mehr. Analog gilt das auch für komplexere Einheiten: *caña azul de azúcar, *caña de mi azúcar usw. In diesen Fällen bleibt die Äußerung zwar prinzipiell interpretierbar (wie?), man kann damit aber wohl kaum mehr auf das Sachobjekt ZUCKERROHR referieren.
Unter Anwendung dieses Kriteriums können wir in dem Mini-Text
[ajkerespetaɾlas'foɾmas 'kujðalas'foɾmasiseɾasrespe'taðo]
problemlos diese elf Wörter wiedererkennen:
Hay que respetar las formas; ¡cuida las formas y serás respetado!
Allerdings werden manche vielleicht sagen, es handle sich nicht um elf Wörter, sondern nur um sieben. Beide Berechnungen sind auf ihre Weise richtig: Wer zum Ergebnis elf kommt, zählt einzelne Wortformen, wer nur auf sieben kommt, fasst jeweils zwei Wortformen zu einer abstrakteren Einheit zusammen, zu einem Lexem.1 Doch auch hinter den anderen Wortformen nehmen wir sinnvollerweise abstrakte Lexeme an.
Um Lexeme zu zitieren, verwendet man bei den flektierbaren Wortarten in der Regel den Infinitiv (beim Verb) bzw. die Form des Singulars2 (Substantive, Adjektive); gelegentlich wird auch nur der Stamm zitiert (z.B. respet-), insbesondere dann, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Wortbildung oder Morphologie betrachtet werden.3 Für Lexem als Basiseinheit des Lexikons verwendet man gelegentlich auch den vom französischen Semantiker Bernard Pottier geprägten Begriff Lexie.
Zusammenfassend können wir festhalten, dass wir es bei Wörtern entweder mit konkreten Wortformen oder abstrakten Lexemen zu tun haben. Wie der Gegensatz zwischen (Allo-)Phon und Phonem beruht auch diese Opposition auf der Saussureschen Dichotomie langue – parole.
2.2 Komplexe und mehrgliedrige Lexeme: Phraseologie
Lexeme können aus mehreren Komponenten oder Formelementen bestehen. Einfache Beispiele dafür sind Komposita, z.B. lavavajillas, fotocopia oder altavoz. Auch abgeleitete Wörter wie bíblico (← biblia), ensayista (← ensayo) oder formalizar (← formal) gehören hierher. Neben diesen komplexen Lexemen gibt es auch Einheiten, die in ihrem Aufbau syntaktischen Regeln gehorchen, ohne allerdings wie Phrasen zu funktionieren. Beispiele wären:
1 saber (algo) a demonios ‘tener (algo) muy mal sabor’
2 como una bala ‘velozmente’
3 (dar) carta blanca ‘(otorgar) plenos poderes’
4 lobo de mar ‘marinero con mucha experiencia’
5 subírsele el pavo ‘ponérsele (a uno) la cara roja a causa de la vergüenza’
6 ¡buenas noches!
Es handelt sich um formelhafte Wendungen, die man v.a. auch als idiomatische Wendungen, Phraseologismen, Phraseolexeme oder Idiome (von engl. idiom) bezeichnet. Im Spanischen spricht man von frases hechas, modos de decir, modismos, unidades fraseológicas usw. Man fasst sie unter den Begriffen Phraseologie oder auch Idiomatik zusammen.1
Phraseologismen sind durch drei je unterschiedlich stark ausgeprägte Grundmerkmale gekennzeichnet (cf. Ruiz 1998, Zuluaga 2012):
Idiomatizität
Darunter versteht man, dass die Bedeutung der Einheit nicht direkt aus der Bedeutung der Komponenten abgeleitet werden kann. In aller Regel ergibt sich gemäß dem sog. Kompositionalitätsprinzip (auch: Frege-Prinzip) die Bedeutung mehrgliedriger Äußerungen aus den Bedeutungen der Komponenten; man könnte auch sagen, sie ist eine Funktion dieser Einzelbedeutungen. Ausdrücke, in denen keine der Komponenten zur Gesamtbedeutung beiträgt, sind vollidiomatisch. Das oben zitierte Beispiel subírsele el pavo fällt in diese Kategorie. Andere Phraseologismen wie saber a demonios sind teilidiomatisch, weil nicht alle Komponenten umgedeutet sind; saber kommt hier auch in seiner wendungsexternen Bedeutung vor. Faktisch sind vollidiomatische Phraseologismen völlig unmotiviert; vor allem muttersprachliche Sprecher empfinden dies aber anders, weil der idiomatischen Bedeutung u.U. eine für sie einleuchtende und besonders treffende Metapher zugrundeliegt (cf. Burger 1989a, 26). Das kann auch für Phraseologismen gelten, die unikale Elemente enthalten, d.h. solche, die in anderen Kontexten nicht (mehr) vorkommen, z.B. de pe a pa ‘desde el principio hasta el fin’ oder en un santiamén ‘rápidamente, en muy poco tiempo’. Sie müssen ebenfalls als vollidiomatisch aufgefasst werden. Neben der Metapher sind die Metonymie und die Synekdoche die wichtigsten Formen der Bedeutungskonstitution bei Phraseologismen. Auffällig ist dabei, dass es in allen europäischen Sprachen einen Grundstock an gleichen oder zumindest sehr ähnlichen Phraseologismen gibt; in der Regel sind sie nicht polygenetisch entstanden (verschiedene Sprachgemeinschaften greifen zufällig zur selben Metapher), sondern erklären sich aus einer gemeinsamen Bildquelle (z.B. Bibel, Texte der Weltliteratur), die durch Übersetzung an verschiedene Sprachgemeinschaften vermittelt wurde.2
Schließlich sind auch bestimmte, auf den ersten Blick völlig transparent erscheinende, feste Wendungen wie legítima defensa oder saber perder idiomatisch im Sinne von “semantisch nicht ganz regulär”: legítima defensa ist nicht das gleiche wie defensa legítima, und saber perder bedeutet nicht ‘zu wissen, was man tun muss, um zu verlieren’.
Stabilität
Wie eingangs erwähnt, verhalten sich Phraseologismen, egal ob vollidiomatisch, teilidiomatisch oder nur semantisch leicht irregulär, anders als freie Phrasen; sie sind fixiert. Ihre Festigkeit und Stabilität manifestiert sich in mehrerlei Form:
Lexikalisch-semantische Fixierung, d.h. die Bedeutung ist an die Realisierung bestimmter Komponenten gebunden: canela fina ‘das Feinste vom Feinen’ vs. *canela delicada; no tener sangre en las venas ‘Fischblut in den Adern haben’ vs. *no tener sangre en las arterias; brillar por su ausencia ‘durch Abwesenheit glänzen’ vs. *resplandecer por su ausencia. Der Austausch von Komponenten, wie hier versuchsweise mit Lexemen ähnlicher Bedeutung, lässt nur mehr eine wörtliche Interpretation als freie Phrase zu.
Fixierung der Abfolge der Komponenten, was z.B. in den folgenden Paarformeln deutlich wird: sano y salvo vs. *salvo y sano; al fin y al cabo vs. *al cabo y al fin; amigos y enemigos vs. *enemigos y amigos.
Pragmatische Fixierung: Die sog. pragmatischen Idiome oder Routineformeln (Grußformeln, stereotype Entschuldigungsformeln etc.) sind nicht nur in ihren Komponenten fixiert, sondern auch an bestimmte Situationen gebunden. Ähnliches gilt auch für andere Typen von Phraseologismen, die einen bestimmten Situationskontext verlangen.
“Transformationelle Defektivität”: Der Begriff, der von Vertretern der Generativen Grammatik geprägt wurde,3 bezeichnet den Umstand, dass Phraseologismen in der Regel Transformationen wie Topikalisierung, Nominalisierung, Expansion und Passivierung nicht unterzogen werden können: pagar el pato (‘etwas ausbaden’) vs. *el pato que pagó, *el pato, no lo ha pagado, *el pago del pato, *pagar el nuevo pato. Da hier in jedem Fall semantisch nicht präsente Elemente manipuliert werden, geht die an die fixe Komponentenabfolge gebundene Bedeutung verloren, sodass die entstehenden Äußerungen nur mehr wörtlich verstanden werden können. Eine andere Form von Nominalisierung, bei der der gesamte Ausdruck manipuliert wird, ist hingegen nicht ausgeschlossen: el hecho de pagar el pato.
Alle genannten Beschränkungen gelten für den normalen Gebrauch ohne spezifische Ausdrucksintentionen wie Ironie, Sprachspiel etc. Wenn eine Komponente eines Phraseologismus vom Sprecher aber mit der Sprechsituation konkret in Verbindung gebracht werden kann (Remotivierung), sind prinzipiell wieder alle Modifikationen möglich: Austausch von Komponenten, Expansion, Umkehr der Abfolge etc. Solche “Verletzungen” der Stabilität von Phraseologismen sind häufig in journalistischen Texten und in der Werbesprache zu beobachten, cf. die folgenden Beispiele (aus Piñel 1997):