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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie


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inszeniert und deutlich macht, dass bei ihr jede*r eine zweite Chance erhält (Zeilen 11–13). Sie macht dann auch klar, dass die Schüler*innen diese zweite Chance gar nicht wahrnehmen wollten, sondern den Ehrgeiz ihrer Lehrkraft übernahmen: „jetzt ham se nämlich diesen EHRgeiz auch?“ (Zeile 15). Ihre eigene Zielorientierung motivierte also auch ihre Schüler*innen. Damit begründet sie auch den Optimismus für den zukünftigen Unterricht mit einer neuen Klasse: „ich glaub das wird sehr GUT bei uns werden? DIE: arbeit online?“ (Zeilen 19–20).

      Diese Lehrkraft hier präsentiert sich als kompetent, engagiert und optimistisch und als jemand, der das Erreichen der Bildungsziele auch unter Pandemiebedingungen als bewältigbare Herausforderung darstellt. Diese Selbstpräsentation und dieser Optimismus kontrastieren stark mit der Selbstdarstellung der Lehrkraft D (Abb. 2), deren Perspektive auf den Online-Unterricht negativ ist, die den digitalen Unterricht als Belastung empfindet und die offensichtlich auch nicht das Engagement aufbringen kann, das in dieser Situation notwendig wäre, um einen „sehr guten“ Unterricht leisten zu können. Dies kann und darf man jedoch nicht als Problem des Individuums auffassen, sondern muss in einem größeren Kontext gesehen werden. Um zumindest guten Unterricht leisten zu können, müssten Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen grundsätzlich entsprechend geschult sein; das ist, wie Decker-Ernst verdeutlicht (vgl. Decker-Ernst 2017: 281), nicht immer der Fall. Es muss ebenfalls die Frage gestellt werden, ob es Aufgabe der Lehrkräfte sein kann, sich eigenständig digitale Kompetenzen anzueignen, die eigenen Vorbereitungsklassen mit Geld und Geräten zu versorgen und Zugänge zur digitalen Infrastruktur herzustellen. Die Pandemiesituation macht hier gravierende Versäumnisse der Bildungspolitik auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar – auch auf der Ebene der Bildungsträger. Das wird in den Interviews ebenfalls thematisiert: „[und wenn] die gemeinde den schulen kein INternet zur verfügung stellt? dann kann die schule des BESte konzept haben, dann funktionierts einfach net.“ (Lehrkraft C, (1:45:11:0–1:45:17:9)). Ob Unterricht angemessen, zielorientiert und bedarfsgerecht ist, darf sich nicht am ungewöhnlichen und herausragenden Engagement sowie entsprechenden Kontakten einer Lehrkraft entscheiden.

      3.3 Pandemie, Ressourcenknappheit und die VKL als das schwächste Glied in der Kette

      Der Handlungsspielraum der Lehrkräfte wird durch ihre Position in der Hierarchie des Bildungssystems und der oftmals nur impliziten Hierarchie in der Schule bestimmt; diese Hierarchien werden in der Pandemiesituation plötzlich explizit. So wird an einer Schule (Sekundarstufe) in der Phase der teilweisen Schulöffnungen vor dem bereits antizipierten zweiten Lockdown im Januar 2021 etwa der Zugang zum Computerraum plötzlich zur wertvollen Ressource, um die sich alle Klassen streiten. Denn aufgrund des an der Schule fehlenden WLANs können die Klassen nur dort Verbindung zum Internet herstellen und daher auch nur dort mit Online-Unterricht vertraut gemacht und auf mögliche weitere Schulschließungen vorbereitet werden. Wie die Lehrkraft der VKL erzählt, ist es für ihre Klasse jedoch sehr schwierig, Zugang zu diesem Raum und damit zur Möglichkeit, sich auf weitere Schulschließungen vorzubereiten, zu erhalten:

      Abb. 4: Interview mit Lehrkraft C, Sekundarstufe (1:59:36:1–2:00:14:1)

      Die Lehrkraft eröffnet ihre „small story“ (Bamberg/Georgakopoulou 2008) mit einer tautologischen Aussage, die hervorhebt, dass das zu Erzählende kein Einzelfall ist, sondern Teil eines größeren Problemkomplexes: „(-) des is ja wieder DES;“ (Zeile 1): Wenn sie den Computerraum nutzen wollte, dann „mussten erst immer alle ANderen rein“ (Zeile 3). Sie und ihre Klassen wurden immer zurückgestellt. Durch die Verwendung des Modalverbs „müssen“ stellt sie dar, dass diese Praktik von den anderen nicht als etwas aufgefasst wird, das ihren eigenen Intentionen entspringt, sondern als zwingend erachtet wird. Mit dem Modalverb „müssen“ verweist sie auch darauf, dass ihr die Möglichkeit verwehrt ist, sich gegen diese Praktik zur Wehr zu setzen. Wie dieses Zurückdrängen auf den letzten Platz in der Reihe in ihrer Schule legitimiert wird, inszeniert die Lehrkraft dann, das footing wechselnd (vgl. Goffman 1981), als direkte Rede derjenigen, die vor ihr in den Computerraum „müssen“: „weil die vau ka el isch ja nich WICHtig“ (Zeile 4). In dieser Rede animiert sie die Aussagen der „anderen“ (vgl. Goffman 1981) und deckt sie als Ideologie auf, die sich an ihrer Schule etabliert hat. Diese Ideologie dekonstruiert sie nun schrittweise, indem sie erstens eine andere Reihenfolge als notwendig postuliert, und zweitens dreifach begründet, warum dieses Umkehren der Reihenfolge notwendig ist. Erstens: Nur ein digitales Lernarrangement garantiert die Aufrechterhaltung des Unterrichts; dies korreliert mit ihrer Aussage an anderer Stelle, dass der Unterricht per Lernpakete für sie nie wieder in Frage kommt (vgl. Kap. 3.1). Zweitens: Ihre Schüler*innen bedürfen der intensiven Betreuung durch die Lehrkraft; ein Selbstmanagement der Schüler*innen kann nicht erwartet werden, denn sonst „machen die einfach ts drei wochen NIX.“ (Zeilen 13–14). Drittens: Der Lernprozess der Schüler*innen der VKL ist prekär, und eine dreiwöchige Pause wird alle Lernerfolge zunichtemachen, auch weil die Eltern nicht in der Lage sind, die Kinder zu unterstützen: „der spricht dann den ganzen tag aRABisch mit seiner mutter?“ (Zeilen 18–24). Jede einzelne der Begründungen wäre ihrerseits diskussionswürdig. Sie dienen im vorliegenden Zusammenhang dazu, die Dringlichkeit der Umkehrung der Reihenfolge zu illustrieren und die von der Lehrkraft identifizierte Ideologie der Schule, die ihrer Klasse den Zugang zum Computerraum verwehrt, zu kritisieren. Das Verwehren des Zugangs zum Computerraum ist, wie die Lehrkraft schon zu Beginn der Erzählsequenz indiziert, Teil eines größeren Problemzusammenhangs, der sich im Kontext der Pandemie und der damit einhergehenden Dringlichkeit der Digitalisierung aller Klassen erneut zeigt: Die Schule nimmt die Verantwortung für ihre schwächsten Glieder nicht wahr, verkennt die spezifischen Bedürfnisse und Problemlagen der VKL-Schüler*innen und verwehrt ihnen daher Ressourcen, die für ihren Lernerfolg essentiell wären. Diese Lehrkraft hier war, wie sich im Verlauf des Interviews herausstellt, zwar dennoch in der Lage, ihre Schüler*innen auf den Online-Unterricht vorzubereiten. Dafür setzte sie nicht nur die eigentlich vorgesehene Schulzeit ein, sondern führte mit den Kindern teilweise mehrstündige Telefonate – auch am Wochenende.

      Während Lehrkraft C (Abb. 3 und dazu einleitender Text) die vorgegebenen Bildungsziele unter Pandemiebedingungen durch überdurchschnittlichen Einsatz in der technischen Organisation und der Vorbereitung des Unterrichts und damit als Einzelkämpferin an ihrer Schule erreicht, versucht Lehrkraft A (Grundschule) die Bedingungen ihres Unterrichts zu beeinflussen, indem Sie sich ans Schulamt als untere Schulaufsichtsbehörde wendet. Sie thematisiert im Interview die prekäre Situation, in welcher sich die VKL generell befinden: VKL werden wegen Lehrkräftemangel aufgelöst, Lehrkräfte fallen aus, weil sie als Mitglieder von Risikogruppen nicht mehr in den Klassen unterrichten können, und kleinere Vorbereitungsklassen werden zusammengelegt, um die so frei werdenden Lehrkräfte in anderen Klassen einsetzen zu können. Dies wirkt sich auf ihre eigene Klasse aus, welcher während des Interviews 25 Kinder zugeteilt sind und damit mehr, als vom Kultusministerium erlaubt wäre. Die Entlastung durch eine weitere Lehrkraft, die stundenweise mit ihr den Unterricht gestaltete, fällt vollkommen weg, als diese Lehrkraft ausfällt: „und da ist natürlich auch KEIne (.) eh für das ganze SCHULjahr, .hh keine ÄNDerung in sicht. GIBTS einfach niemanden.“ (Lehrkraft A (0:16:40:9–0:16:47:2)) Sie fasst zusammen: „also des is jetzt SO: (-) .hh am RANde ne problematik die sich durch corona jetzt zUsätzlich einfach ergibt dass die: dass die RAHmenbedingungen natürlich immer schlEchter werden.“ (Lehrkraft A (0:16:09:6–0:16:18:1)). Gegen die Verschlechterung der Rahmenbedingungen will sie sich zur Wehr setzen, wie in folgendem Ausschnitt sichtbar wird:

      Abb. 5: Interview mit Lehrkraft A, Grundschule (0:15:02:7–0:15:28:2)

      Dieser Ausschnitt illustriert nicht, wie eine geglückte Intervention von Seiten einer VKL-Lehrkraft aussieht, sondern ist eher die Darstellung eines Versuchs, die Bedingungen eines Systems zu ändern, das durch Instanzen gestaltet ist, die für die Lehrkräfte nicht greifbar werden und sich einer direkten Adressierung entziehen. Die Lehrkraft verortet sich hier explizit in der im Bildungssystem geltenden Hierarchie, und sie macht deutlich, dass sie hierarchiekonform handelt. Sie geht mit ihrem Anliegen