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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie


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sowie den Unterricht in VKL und VABO stehen unter „Orientierungsrahmen VKL“ und „VABO“ spezifische Hinweise, Erläuterungen und Materialien online zur Verfügung. Diese Materialien sind 2017 erarbeitet und 2019 überarbeitet und deutlich erweitert worden (vgl. Fachportal IBM: VKL/VABO 2021). Das Fachportal Integration – Bildung – Migration zeigt für Baden-Württemberg, dass auch der Aspekt der Fortbildungen und Veranstaltungen stärker berücksichtigt werden soll, allerdings ist die entsprechende Seite zu Veranstaltungen und Fortbildungen noch im Aufbau (vgl. Fachportal IBM: Fortbildungen 2021).

      An den Schulen, deren Lehrkräfte an unserer Erhebung teilgenommen haben, liegen unterschiedliche Ausgestaltungen der schulorganisatorischen Modelle vor; bei den für diesen Beitrag ausgewählten Schulen liegen verschiedene teilintegrative Modelle und ein eher paralleles Modell vor. Auch der von Decker-Ernst (2017) angemerkte unterschiedliche und kreative Umgang der Schulen mit den vorgegebenen Ressourcen sowie das hohe Engagement der Lehrkräfte mit gleichzeitig sehr unterschiedlichen Qualifizierungen wurde exemplarisch sichtbar.

      3 Sprachunterricht in der pandemiebedingten Krisensituation

      Die ausgewählten Interviews mit vier Lehrkräften, zwei davon unterrichten zurzeit in Vorbereitungsklassen an Grundschulen, zwei in Vorbereitungsklassen an weiterführenden Schulen, sind im Dezember 2020 und Anfang Januar 2021 entstanden. In einer der Grundschulen wird die VKL passend zum Schuljahr ein Jahr lang parallel geführt, in der anderen liegt ein teilintegratives Modell vor, in dem die Schüler*innen zwar in allen Fächern von der VKL-Lehrerin unterrichtet werden, im Bereich des Ganztagesangebots aber bereits frühzeitig integriert werden, indem sie z.B. am gemeinsamen Mittagessen und an Wahlangeboten am Nachmittag in altersbezogenen, klassenübergreifenden Gruppen teilnehmen. In der Sekundarstufe liegen teilintegrative Modelle vor, wobei an einer Schule der Sprachunterricht in Anlehnung an die Didaktik von Deutsch als Fremdsprache sehr systematisch nach Lehrgangsprinzip durchgeführt wird.

      Die Lehrkräfte blicken in den Interviews auf das Frühjahr 2020 zurück und planen für die kommende Schulschließung im Januar 2021. Zu allen Interviews wurden zunächst Inventarisierungen (vgl. Kruse 2015: 570f.) erstellt, um alle Kernstellen herauszufiltern, in denen die Beschulung während der Pandemie thematisiert wird. So wurde deutlich, welche Themen von allen Lehrkräften angesprochen werden und welche nur von einzelnen. Alle Lehrkräfte berichten über die Organisation des Unterrichts im Frühjahr 2020 während der ersten Schulschließungen, die Durchführung des Wechselunterrichts und Pläne für neue Schulschließungen, das Management der Schulen und die Funktion der Schulleitungen, die Herausforderungen, die sich aus der teils fehlenden, teils erst ganz neu aufgebauten digitalen Infrastruktur der Schulen ergeben, die Organisation der Kommunikation mit Kindern und Eltern. Thematisiert werden von einzelnen Lehrkräften auch die generellen Benachteiligungen der VKL und Auflösungen von VKL, was mit der pandemiebedingten Verschärfung des Lehrkräftemangels in Verbindung gebracht wird.

      Für den vorliegenden Beitrag wurden zu den Themen Unterricht per Materialpaket, DaZ-Unterricht digital und VKL als schwächstes Glied der Kette exemplarisch Kernstellen aus den Interviews ausgewählt und ggf. stark unterschiedliche Perspektiven kontrastiert. Diese Kernstellen wurden nach Kruse analysiert (vgl. Kruse 2015: 556). Im Vergleich wird sichtbar, wie die Lehrkräfte die bildungspolitischen Vorgaben unter Pandemiebedingungen umsetzen und wie sie verschiedene Ressourcen und Möglichkeiten, die vorhanden sind, nutzen. Wie die Lehrkräfte die ungewohnte Situation der geschlossenen Schulen oder Varianten von Wechselunterricht erleben, wie sie den Unterricht während dieser unterschiedlichen Phasen ausgestalten, auf welche Ressourcen sie dabei zurückgreifen und welche Rolle sie dabei den Schüler*innen zuschreiben, kontrastiert teilweise stark.

      3.1 Unterricht per Materialpaket

      Alle vier Lehrkräfte erzählen davon, dass und wie sie die Schüler*innen im Frühling 2020 mit Materialpaketen versorgten; zwei Lehrkräfte deponierten ihre Materialpakete in den Schulen und ließen sie dort auch wieder von den Eltern hinterlegen; zwei Lehrkräfte brachten die Materialpakete von Tür zu Tür. Eine Lehrkraft der Grundschule nutzte die Übergabe der Pakete zusätzlich, um Gespräche über die Lernprozesse der Kinder zu führen, was sehr zeitaufwändig war. Der Erfolg des Unterrichts mit Hilfe von Materialpaketen wird von den Lehrkräften sehr unterschiedlich bewertet. Eine Lehrkraft an der Sekundarschule war damit sehr unzufrieden: „UND (-) ich hab gewusst? so will ich NIE wieder unterrichten? […] mit koPIERpapier paketen;“ (Lehrkraft C (1:42:50:3–42:56:1)). Diese dezidiert aus einer subjektiven Perspektive formulierte Beurteilung kontrastiert mit der Perspektive der Grundschullehrkräfte, die den Unterricht mit Lernpaketen weniger negativ sehen. Rückblickend bewertet die eine Lehrkraft diesen Unterricht als „nicht wenig effekTI:V? also es war nicht so SCHLECHT;“ (Lehrkraft A (0:18:19:9–0:18:22:4). Der folgende Ausschnitt zeigt, dass die andere Grundschullehrkraft ebenfalls sehr zufrieden war. Wie sie über den Unterricht mit Lernpaketen spricht und wie sie diese Unterrichtsorganisation auch legitimiert, wird im Folgenden genauer analysiert. In ihre Vorbereitungsklasse gehen zurzeit 13 Kinder. In der Organisation des Unterrichts orientierte sie sich am Vorgehen ihrer Kolleg*innen und ließ die Materialpakete in der Regel an der Schule abholen und wieder hinterlegen. In einzelnen Fällen übergab sie die Materialpakete auch an der Tür. Die Tür-und-Angel-Situation nutzte sie nicht für lernprozessbezogene Gespräche. Im folgenden Ausschnitt erzählt sie auf die Frage der Interviewerin, ob denn ein Kind während des ersten Lockdowns „untergegangen“ sei, eine Anekdote, die im Prinzip den Schwachpunkt ihrer Unterrichtsorganisation illustriert, der sich im Nachhinein ihres Erachtens aber als unproblematisch erwies:

      Abb. 1: Interview mit Lehrkraft B, Grundschule (0:11:16:0–0:12:11:8)

      Die Frage der Interviewerin, ob denn ein Kind während des Lockdowns „untergegangen“ sei, verneint die Lehrkraft nachdrücklich: „NE:.“ (Zeile 1) Die Bewertung dieses Sachverhalts bricht sie ab und verleiht dann ihrem Erstaunen Ausdruck darüber, wie „TOLL“ (Zeile 5) der Unterricht mit Lernpaketen geklappt habe. Als Bestätigung und gleichzeitige Legitimation dieser Aussage erzählt sie nun, wie routiniert der Unterricht per Lernpaket funktionierte (Zeilen 8–9); die Pointe der Geschichte besteht aber gerade nicht im Nachweis der Routine und deren Erfolg, sondern in der Darstellung der Ausnahme, die sie erlebte. Die Einschränkung, dass zwar die allermeisten, aber doch nicht ganz alle die Lernpakete abholten, bearbeiteten und wieder zurückbrachten, fungiert hier als Einleitung in die ausführliche Erzählung, in deren Zentrum das Kind, von dem „irgendwie nie“ (Zeile 12) etwas kam, steht. Die Lehrkraft erzählt, auf das Stilmittel der zitierten Gedankenrede zurückgreifend und damit das footing wechselnd (vgl. Goffman 1981), wie sie selbst auf dieses Ausbleiben reagierte. Dieses erzählte Ich wird zuerst als pflichtbewusste Lehrkraft dargestellt, die sich Gedanken darüber macht, wieso die Lernpakete des Kindes ausbleiben. Im Fortgang der Geschichte zeigt sich jedoch, dass das erzählte Ich den Gedanken keine Taten folgen lässt, die während des Lockdowns etablierte Routine, nämlich die Lernpakete einfach in den Briefkasten zu werfen, nicht durchbricht und nicht anruft. Die Darstellung der Untätigkeit der Lehrkraft mag narrativ geschickt sein, denn damit steigert sie bei der Zuhörerin die Spannung auf die Auflösung des Problems. Sie enttäuscht aber so gleichzeitig die Erwartungen, welche die Zuhörerin an eine pflichtbewusste Lehrkraft stellt: Das erzählende Ich stellt das erzählte Ich in einem äußerst negativen Licht dar. Das face (vgl. Goffman 1981) des erzählten Ichs wird im Fortgang der Geschichte jedoch durch das Kind gerettet. Narrativ wird das Kind hier zur Heldin, denn es bringt wider Erwarten „für ALLe wochen (-).h !ALL!es“ (Zeile 19) zurück: Der Unterricht per Lernpaket hat doch funktioniert, die Sorgen der Lehrkraft, dass das Kind nicht arbeite, waren unbegründet, das Ausbleiben des Nachfragens nicht weiter tragisch. Das Lachen, welches die Auflösung der Erzählung begleitet, unterstreicht dies. Es kommentiert nicht nur das Handeln des Kindes und unterstreicht damit den inszenierten Erwartungskontrast. Es ist auch ein Lachen der Erleichterung, da selbst bei diesem Kind, der Ausnahme, der Unterricht mit Lernpaketen trotz der Untätigkeit der Lehrkraft nicht komplett missglückte. Das Kind rettet hier Lernsetting und Ansehen der Lehrkraft gleichermaßen. Aus dieser Erfahrung schöpft die Lehrkraft, wie die letzte Zeile (28)