Mit zunehmendem Alter machen uns Störungen unseres zirkadianen Rhythmus immer mehr zu schaffen. Ich persönlich glaube, dass die meisten Krankheiten, die sich bei uns im Erwachsenenalter einstellen, auf Störungen unserer inneren Uhr zurückzuführen sind. In Teil III gehe ich daher auf bestimmte Krankheitsbilder und die Zusammenhänge mit zirkadianen Rhythmen ein. Hier befassen wir uns mit Krebs und anderen Krankheiten, die das Immunsystem betreffen, ebenso wie mit den Bestandteilen des Stoffwechsel-Syndroms (Herzkrankheiten, Adipositas und Diabetes) und neurologischen Erkrankungen wie Depression, Demenz, Parkinson und anderen neurodegenerativen Störungen. Sie werden außerdem erfahren, wie das Darm-Mikrobiom durch unseren inneren Rhythmus beeinflusst wird und was bei Beschwerden wie Säurereflux und Sodbrennen sowie bei entzündlichen Darmerkrankungen hilfreich sein kann.
Ich bin kein Arzt, also kann ich auch keine Medikamente verschreiben. Durch meine wissenschaftliche Arbeit wird mir jeden Tag bewusst, wie wenig wir im Grunde genommen über die Funktionsweise unseres Körpers wissen. Aber die genauen Erkenntnisse, die ich über diesen urwüchsigen und unausweichlichen Rhythmus habe, dem wir alle unterliegen, und meine besten Ratschläge zur Optimierung Ihrer täglichen Abläufe kann ich Ihnen vermitteln. Bitte teilen Sie die Informationen über tägliche Gewohnheiten, die Ihre innere Uhr wieder in Takt bringen, mit Ihrem Arzt oder Heilpraktiker, damit dieser den Behandlungsplan optimal darauf abstimmen kann. Mithilfe der Tipps aus diesem Buch stehen die Chancen nicht schlecht, Ihre Gesundheit wieder auf Vordermann zu bringen.
Teil I:
Die zirkadiane Uhr
KAPITEL 1
Wir sind alle Schichtarbeiter
Wenn Sie Schichtdienst leisten und mitten in der Nacht aufstehen und zur Arbeit gehen oder erst spät abends von der Arbeit nach Hause kommen oder die ganze Nacht lang wach sind, dann wissen Sie, wie es ist, gegen den Urdrang zu leben, der uns befiehlt, nachts zu schlafen und tagsüber wach zu sein. Und selbst wenn Sie keine Schichten arbeiten, können Sie sich sicher an Zeiten erinnern, als Sie gegen Ihre innere Uhr angekämpft haben. In Wahrheit sind wir alle Schichtarbeiter. Jeder Mensch kennt Zeiten mit länger anhaltenden Schlafproblemen und bei vielen Menschen hält sich das Problem hartnäckig. Wenn Sie privat oder bei der Arbeit eine Nachtschicht einlegen, wenn Sie bis spät in die Nacht für eine Klausur lernen, auf einem Flug mehrere Zeitzonen durchqueren, am Bett eines kranken Familienmitglieds wachen oder mehrfach nachts wach werden, um Ihr Baby zu füttern, dann sind auch Sie ein Schichtarbeiter beziehungsweise eine Schichtarbeiterin. Ein Vollzeitjob mit langem Anfahrtsweg und zusätzlichen Haushaltspflichten ist nichts anderes, als würden Sie zwei Schichten hintereinander arbeiten – und wahrscheinlich kommen Sie dabei selten vor Mitternacht ins Bett. Schon eine lange Partynacht kann die gleichen störenden Auswirkungen haben wie eine Reise von einer Zeitzone in eine andere. Dieses Phänomen wird daher mittlerweile als Social Jetlag bezeichnet.
Die Aussage, dass wir alle Schichtarbeiter sind, ist mehr als ein reines Gedankenexperiment; Daten scheinen dies zu belegen: So hat beispielsweise Professor Till Roenneberg, ein Schlafforscher aus München, mehr als 50 000 Menschen in Europa und den USA befragt und herausgefunden, dass die meisten entweder erst nach Mitternacht zu Bett gehen oder bereits früh am Morgen unausgeschlafen wach werden.1,2 Auch ändern Menschen häufig am Wochenende ihre Bettgehzeiten. Beim Welt-Schlaf-Kongress 2017 präsentierte Roenneberg seine Daten, die zeigten, dass nahezu 87 Prozent aller Erwachsenen unter dem oben erwähnten „Social Jetlag“ leiden und am Wochenende mindestens zwei Stunden später ins Bett gehen als in der Woche.
Vor rund sechs Jahren begann meine Forschungseinrichtung damit, die Aktivitäten und Schlafmuster von nahezu 200 College-Studenten aufzuzeichnen, und wir stießen dabei auf das gleiche Muster, über das auch Roenneberg berichtete. In der Gruppe fand sich nur eine Person, die tatsächlich jeden Tag nahezu zur gleichen Zeit ins Bett ging, auch am Wochenende. Und es gab nur einen weiteren Studenten, der wenigstens an zwei Tagen in der Woche vor Mitternacht schlafen ging.
Wir beobachten auch Schwangere und berufstätige Mütter, deren Rhythmen ebenfalls sehr unregelmäßig sind. Hier findet sich überraschenderweise eine starke Ähnlichkeit zu den Mustern von Feuerwehrleuten, die auch davon ausgehen, mehrmals nachts aus dem Schlaf gerissen zu werden. Für viele Frauen ist der härteste Teil des Mutterseins das Ankämpfen gegen die eigene innere Uhr, das Wachsein in der Nacht und der Versuch, am Tag zu unterschiedlichen Zeiten Schlaf nachzuholen. Junge Mütter bekamen tatsächlich nur dann ausreichend Schlaf, wenn sie zusätzlich zu ihrem Partner weitere Unterstützung durch Eltern oder Schwiegereltern hatten, die nachts öfter einmal einsprangen.
Berufstätigen Müttern fällt es am schwersten, einen täglichen Rhythmus in ihrem Leben zu finden, da ihr Tagesablauf von allen anderen Familienmitgliedern beeinflusst wird. In der Regel stehen diese Mütter früh auf, um das Frühstück für die ganze Familie zuzubereiten, den Kindern beim Anziehen zu helfen, Pausenbrote zu schmieren und Schulranzen zu packen, die Kinder zur Schule oder in die Betreuung zu bringen und dann selbst zur Arbeit zu fahren. Nach dem Abendessen kümmern sie sich noch um Hausaufgaben, helfen beim Lernen oder sind bis spät abends mit dem Haushalt beschäftigt. Je weiter die Woche fortschreitet, umso mehr leidet ihre innere Uhr. Als meine Tochter noch ein Kleinkind war, wurde meine Frau regelmäßig am Freitag krank und benötigte nahezu das gesamte Wochenende zur Erholung.
Unabhängig von den Gründen oder Umständen wissen wir alle, wie wir uns nach einer kurzen Nacht fühlen. Wir sind müde, können aber nicht schlafen. Der Magen ist leicht gereizt, die Muskeln sind schwach, wir können nicht besonders klar denken und ins Fitnessstudio wollen wir schon gar nicht gehen. Körper und Geist sind in einem leichten Zustand der Verwirrung – die eine Hälfte des Gehirns sagt uns, dass es Zeit ist, den verlorenen Schlaf nachzuholen, die andere Hälfte besteht darauf, dass es Tag ist und somit keine Schlafenszeit. Vielleicht entscheiden wir uns, durchzuhalten und das Schlafbedürfnis mithilfe eines starken Kaffees oder Energydrinks zu unterdrücken, oder wir versuchen so schnell wie möglich wieder zur gewohnten Routine zurückzufinden.
Das Gehirn eines Menschen, der Schichtarbeit leistet, kann keine rationalen Entscheidungen treffen. Laut einem kürzlich in der Zeitschrift Popular Science erschienenen Artikel3 hat bereits eine einzige Nachtschicht kognitive Auswirkungen, die eine ganze Woche anhalten können. Solche Gedächtnislücken oder Aufmerksamkeitsdefizite können uns unter anderem anfällig machen für schlechte Gewohnheiten. Schon wenige Tage, an denen wir zu wenig Schlaf bekommen, können unser Essverhalten verändern – sowohl in Bezug auf die Lebensmittel, nach denen es uns gelüstet, als auch in Hinblick auf die Menge, die wir während des nächtlichen Wachseins essen. Häufig nehmen wir nachts, wenn unser Magen sich eigentlich ausruhen und regenerieren sollte, besonders kalorienreiches Junk Food zu uns.
Schichtarbeiter leiden häufig unter Einschlafproblemen. Einige versuchen, das Problem mit Alkohol oder Schlaftabletten zu lösen, die jedoch langfristig Depressionen auslösen können. Noch entscheidender ist natürlich, dass es sich dabei um Suchtmittel handelt und diese schlechte Angewohnheit meist bestehen bleibt, auch wenn die Lebensumstände es gar nicht mehr erfordern, nachts wach zu sein.
Und als würde die Schichtarbeit unser eigenes Leben nicht schon genug beeinflussen, werden auch unsere Familienmitglieder mehr oder weniger zu Schichtarbeitern zweiter Hand, indem sie sich an unsere Zeiten anzupassen versuchen und uns zuliebe früher aufstehen oder abends länger wachbleiben. Auch hier sind die gesundheitlichen Auswirkungen bedenklich. Bei einer im Jahr 2013 veröffentlichten Studie zum Thema stellten Forscher fest, dass die Kinder von Schichtarbeitern im Vergleich zu anderen nicht nur mehr kognitive Probleme und Verhaltensstörungen aufwiesen, sondern auch stärker zu starkem Übergewicht neigten.4
Während es sich vielleicht unangenehm anfühlt, wenn man einen