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Weiterwohnlichkeit der Welt


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eine Theorie des gerechten Krieges freilich wird man bei ihm vergeblich suchen. Ja, mehr noch: Eine solche Theorie ist auf der Grundlage seines Ansatzes gar nicht denkbar. Dies gilt noch mehr für den späten Heidegger, der im Gefolge Diltheys den Gedanken der Geschichtlichkeit zu einer Theorie der Inkommensurabilität der verschiedenen Manifestationen des Seins steigert.19 Mit diesem Ansatz ist die Auffassung unvereinbar, es gebe ein allgemeingültiges Sittengesetz, und noch weniger ist eine eigenständige Ethik innerhalb eines Ansatzes denkbar, in dem eine verantwortliche, autonome Subjektivität vom Sein gleichsam verschluckt wird. Das besonders Irritierende am späten Heidegger ist wiederum, daß sein Denken der metaphysischen Tradition zuzugehören scheint, was einesteils auch wirklich zutrifft, wobei andernteils die entscheidenden Gedanken der metaphysischen Tradition, insbesondere der Zusammenhang zwischen Metaphysik und Ethik, preisgegeben, ja in ihr Gegenteil verkehrt werden: Denn Heideggers Sein ist vollständig wertfrei. Während jeder, der an jener Tradition hängt, in Nietzsche ihren Feind erkennt, ist deren Pervertierung durch Heidegger, weil sie zum Teil in der Sprache jener Tradition erfolgt, viel schwerer zu durchschauen und daher viel gefährlicher. Hinzu kommt, daß der radikale Historismus des späten Heidegger den Glauben an die Fähigkeit der menschlichen Vernunft lähmt, zeitlose Wahrheiten zu erkennen, worin traditionell die Aufgabe der Metaphysik bestand. Nicht um das Sein und seine Strukturen geht es Heidegger nach der Kehre, sondern um die Art und Weise, wie in den einzelnen Epochen das Sein erfahren wird – also um Metaphysikgeschichte, nicht um Metaphysik. Freilich ist es richtig, daß sich in dieser Geschichte der Metaphysik nach Heidegger das Sein selbst enthüllt (so daß seine Philosophiegeschichtsschreibung philosophisch inspiriert bleibt). Das gilt auch und gerade für die Epoche fortgeschrittenster Seinsvergessenheit, nämlich diejenige der modernen Technologie, deren Wesen und Konsequenzen Heidegger in der Tat wie kaum ein anderer, und früher als alle anderen Philosophen, durchschaut zu haben beanspruchen kann – auch wenn er vor ihr, mangels jeder Ethik, nur zu kapitulieren vermochte.

      Worin zeigt sich die Abhängigkeit Jonas’ von Heidegger?20 Sein erstes großes Werk, das zweibändige Gnosis und spätantiker Geist, erschloß eine wenig erforschte Epoche der Geistesgeschichte neu durch die Anwendung von Kategorien, die Jonas der Daseinsanalytik Heideggers entnommen hatte, wie „Verfallen“ und „Geworfenheit“. Nicht minder ist inOrganismus und Freiheit der Einfluß Heideggers mit Händen zu greifen. Etwas überspitzt kann man sagen, daß die organische Seinsform, um die es Jonas geht, eine Verallgemeinerung des Heideggerschen Daseins ist. Die Sorge, so könnte man sagen, ist zwar nicht allen Organismen eigentümlich, aber sie kann sich nur entwickeln auf der Grundlage der organischen Seinsform. Das Vorlaufen zum Tode setzt Sterblichkeit voraus, und die ist nur die Kehrseite des Lebens. Aber warum? Weil das Leben wesentlich prekär ist, und zwar auf Grund seiner Angewiesenheit auf den Metabolismus. Damit freilich ist das Leben durch eine neue Form von Zeitlichkeit vom Anorganischen geschieden: Durch den Energie- und Stoffwechsel ist die Zeitlichkeit dem Organismus gleichsam immanent: Innerhalb einer bestimmten Zeit muß der Organismus ein bestimmtes Quantum an Energie und Materie austauschen, wenn er überleben soll. In einem gewissen Sinne radikalisiert Jonas nur die in Sein und Zeit begonnene Transzendierung der Husserlschen Bewußtseinsimmanenz: „Und so weit Heidegger sich auch von Husserl entfernte, so blieb er doch im Bannkreis der deutschen idealistischen Tradition, die Wirklichkeit dadurch zu erkennen, zu erfassen, philosophisch zu meistern, daß man in sich selber hineinschaut. […] Zum Beispiel das Hungergefühl als eine innere Sensation, das läßt sich phänomenologisch beschreiben, wie das so ist, wenn man Hunger empfindet. Was man aber durch keine Bewußtseinsanalyse und keine Daseinsanalyse herauskriegt, ist, wieviel der Mensch zum Beispiel nötig hat, um am Leben zu bleiben.“21

      Analog ist auch imPrinzip Verantwortung die erschließende Kraft der Daseinsanalytik Heideggers unverkennbar. Insbesondere die Theorie der Verantwortung im zentralen vierten Kapitel atmet den Geist von Sein und Zeit. Von den drei Merkmalen, die Jonas dem Begriff der Verantwortung zuschreibt – Totalität, Kontinuität und Zukunft –, haben die beiden letzteren mit Zeitlichkeit zu tun, und insbesondere wirkt der Vorrang, den Heidegger der Zukunft zuweist, bei Jonas nach: Die Abschnitte IV und V des vierten Kapitels loten die Bedeutung der Zukunft für den Begriff der Verantwortung aus. Entscheidender noch ist Jonas’ Beharren darauf, daß es Verantwortung nur für Seiendes von organischer Seinsweise geben könne, denn nur dieses sei wesentlich gefährdet und vergänglich. Zwar erkennt Jonas eine Verantwortung des Künstlers für sein Werk an, aber auch diese gebe es nur angesichts möglicher menschlicher Rezipienten des Werkes, und im berühmten Konfliktfall sei selbstverständlich das Kind vor der Sixtinischen Madonna aus dem brennenden Haus zu retten.22 Im allgemeinen gelte: „Nur das Lebendige also in seiner Bedürftigkeit und Bedrohtheit – und im Prinzip alles Lebendige – kann überhaupt Gegenstand von Verantwortung sein.“23 Gegen die platonische Bevorzugung des Dauerhaften, auf deren Grundlage Verantwortung nicht zum zentralen Begriff der Ethik habe werden können, betont Jonas: „Aber die Ontologie ist eine andere geworden. Die unsere ist nicht die der Ewigkeit, sondern die der Zeit. Nicht mehr Immerwähren ist Maß der Vollkommenheit: fast gilt das Gegenteil. Dem ‚souveränen Werden’ (Nietzsche) verschrieben, zu ihm verurteilt, nachdem wir das transzendente Sein ‚abgeschafft’ haben, müssen wir in ihm, das heißt im Vergänglichen, das Eigentliche suchen. Damit erst wird Verantwortlichkeit zum dominierenden Moralprinzip.“24 „Nicht sub specie aeternitatis, vielmehr sub specie temporis muß sie die Dinge ansehen, und sie kann ihr Alles in einem Augenblick verlieren.“25 Verantwortung ist für Jonas „das moralische Komplement zur ontologischen Verfassung unseresZeitlich seins.“26

       II.

      In Organismus und Freiheit27 schildert Jonas, wie sein von Heideggers Philosophie inspiriertes Studium der Geschichte der Gnosis ihn allmählich zu der Einsicht brachte, Heideggers Philosophie sei selbst geschichtlich, ihre Kategorien seien also nicht allgemeingültig, sondern auf eine bestimmte geschichtliche Situation des Menschen beschränkt. Damit erging es Jonas in mancher Hinsicht ähnlich wie dem anderen großen Heidegger-Schüler, Hans-Georg Gadamer: Die intensive, philosophisch geleitete Beschäftigung mit der Geschichte mußte die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Historismus selbst zur Folge haben. Anders als bei Gadamer führte freilich die Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Historismus zu der Anerkennung einer zeitlosen Sphäre als legitimen Gegenstandes der Philosophie.28 Es bleibt Zeichen einer ganz besonderen geistigen Beweglichkeit, daß Jonas auf dieser Grundlage nun eine Neubegründung der Naturphilosophie in Angriff nahm oder, um genauer zu sein, jenes Teils der Naturphilosophie, der vom Organischen handelt. Statt sich wie Heidegger mit den Kategorien zu befassen, die den unterschiedlichen Konstruktionen von Natur in den verschiedenen Epochen der abendländischen Geschichte zugrunde liegen, oder wie die Wissenschaftstheorie den wissenschaftlichen Zugang zur Natur für den einzigen legitimen Zugang zur Natur zu halten, galt Jonas’ Nachdenken der Natur intentione directa – auch wenn in Organismus und Freiheit Reflexionen zur Geschichte der Biowissenschaften weiterhin eine ungewöhnlich große Rolle spielen. Insofern kehrte Jonas zur Phänomenologie seines ersten Lehrers Husserl zurück, und da er gleichzeitig metaphysischen Spekulationen gegenüber offen war,29 konnte er auch mit großer Unbefangenheit etwa auf Aristoteles, Spinoza und Leibniz zurückgreifen.

      Eine sachliche Lektion brachte Jonas aus seinem Studium der Gnosis mit – die Ablehnung jedes radikalen Dualismus. In der Tat ist dies einer der Gründe, warum Jonas sich auf die Philosophie des Organischen warf: Sie interessierte ihn nicht nur aus regionalontologischen Gründen, sondern weil er meinte, in diesem Gebiet Wichtiges für eine allgemeine Seinslehre lernen zu können – eine adäquate Erfassung des Organischen werde etwa eine dualistische Metaphysik nach Art Descartes’ widerlegen.30 Darin besteht nun eine Gemeinsamkeit zwischen Jonas und jenen beiden Denkern, bei denen seine Philosophie des Organischen am ehesten vorgeprägt ist, Aristoteles und Hegel, die beide ebenfalls gegen die Dualismen ihrer Vorgänger Platon und Kant rebellierten. Zwar liegt ein bedeutender Unterschied zwischen Aristoteles und Hegel auf der einen und Jonas auf der anderen Seite darin, daß nur jene ein wirklich umfassendes System der Philosophie vorgelegt haben, das allen Seinsschichten Gerechtigkeit zu erweisen sucht; aber es bleibt richtig, daß auch für Aristoteles und Hegel