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Weiterwohnlichkeit der Welt


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gefährdet, die dazu geeignet waren, das Sollen aufzuheben. Die Ideologie und Vernichtungspraxis des Nationalsozialismus verstand Anders etwa als den Versuch, den Menschen auf eine vorgegebene Natur, auf ein Seiendes, festzuschreiben und auf diese Weise aus einem Sollen ein Müssen zu machen: „Wenn ein Seiendes (der Arier) von Natur aus und unwiderruflicherweise das Gute verkörpert und ein anderes Seiendes (der Jude) gleichfalls von Natur aus und unwiderruflich das Böse, dann ist kein Platz mehr gelassen für Freiheit (der Wahl zwischen Gut und Böse), und das ebenfalls unwiderruflicherweise; und ebenso unwiderruflicherweise ist dann kein Raum mehr übrig für das ‚Sollen’, das nun gewissermaßen zwischen Sein und Müssen zerquetscht wird.“ Unter solchen Bedingungen wird der Kantische Begriff der Pflicht pervertiert. Hatte Kant die Pflicht zu handeln noch als die Forderung verstanden, sich an einer dem kategorischen Imperativ folgenden Vernunft zu orientieren, sich also bei jeder Handlung zu überlegen, ob die zugrundeliegende Maxime für alle Menschen gelten könne, so wurde Pflicht bei den Nazis nun zu dem Phantasma, tun zu müssen, was die Natur verlangt. Anders hat dies knapp und präzise in einer Weise formuliert, die wohl auch für andere, ähnlich gelagerte Ontologisierungen des Guten und Bösen gilt: „Wo Müssen herrscht, darf kein Sollen sein.“17

      Günther Anders ging es demnach um die Analyse jener Faktoren, die – obwohl fallweise sogar Produkt der Freiheit menschlichen Handelns – dieses selbst wiederum bestimmen. An anderer Stelle formulierte er diese Frage folgendermaßen: „Sei moralisch, obwohl du, daß Sollen sein soll, nicht begründen kannst, nein sogar für unbegründbar hältst.“18 Zu dem oben Gesagten ergibt sich dabei kein Widerspruch, da der Mensch – als das zum Sollen gezwungene Wesen – aus diesem Sollen nicht ableiten kann, daß er selbst in einem ontologischen Sinn sein soll. Daß er als Mensch sollen muß, bedeutet nicht, daß er als Mensch auch sein soll. Oder anders ausgedrückt: Zwar ist der Mensch durch seine spezifische Existenz zur Moral genötigt, doch seine Existenz selbst läßt sich ebensowenig aus der Moral ableiten wie man letztere philosophisch begründen kann. Als Konsequenz aus diesen Überlegungen postulierte Anders einen „moralischen Nihilismus“. Ethik bleibt in diesem Sinne letztlich ein „utopisches“, das heißt unmögliches Unterfangen. Daß die Existenz der Gattung Mensch nicht positiv begründet werden kann, bedeutete für Anders allerdings nicht, daß sie deshalb nicht sein soll. Aus seinem moralischen Nihilismus machte er kein anthropofugales Programm, denn so wenig sich begründen läßt, warum menschliches Leben sein soll, so wenig folgt daraus das Gegenteil. In den Ketzereien bekannte sich Anders in bezug auf die Begründbarkeit der Moral und auf die Existenz des Menschen deshalb zu einem doppelten Nihilismus, betonte jedoch, dieser habe ihn als handelndes Wesen nie beeinflußt. Anders zog also aus seinem Nihilismus keine praktischen Konsequenzen, sondern beließ es bei der Provokation, daß er als Nihilist mit „eiserner Inkonsequenz“ auf dem Überleben der Menschheit beharrte.19 Die Frage, welchen Sinn es haben solle, daß es eine Menschheit gebe und nicht vielmehr keine, ist für Anders „höchstens im Bereich der theoretischen Vernunft sinnvoll (auch wenn unbeantwortbar), für die praktische Vernunft dagegen uninteressant. Den Moralisten geht sie nichts an. Er begnügt sich mit dem Vorletzten.“20 Das Leben der Menschen bedarf, um als lebenswert verteidigt zu werden, keines metaphysischen Sinns. Der Sinn des Lebens ist deshalb als Fundament für die Letztbegründung einer Moral ebenfalls ungeeignet. Für seinen praktischen Kampf um das Überleben der Menschheit benötigte Anders keine Begründung. Auch wenn ihn die theoretische Einsicht in die prinzipielle Unmöglichkeit dieser Begründung metaphysisch verzweifeln ließ, so durfte dies für das Handeln keine Bedeutung haben: „Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an.“21

      Jenseits der Frage nach einer philosophischen Letztbegründung der Ethik war Günther Anders jedoch genauso konkret an der Moralfrage interessiert wie Hans Jonas. Es ging ihm schließlich nicht nur um die ethische und geschichtsphilosophische Frage der denkbar geworden atomaren Selbstvernichtung der Menschheit, sondern auch darum, auf welche Weise der technologische Fortschritt das Leben der Menschen entscheidend veränderte. Die Sorge, die Möglichkeiten der Technik könnten weniger einen Zugewinn an Freiheit, als vielmehr eine schleichende Dehumanisierung zur Folge haben, beschäftigte Anders ebenso intensiv wie Jonas. Im Gegensatz zu diesem reagierte er darauf jedoch nicht mit einer neuen Verantwortungsmoral, sondern verlagerte das Moralproblem in die Struktur des Technischen selbst. Während die konventionellen Vorstellungen von Moral, wie sie nicht zuletzt auch in den gegenwärtigen Debatten um Gentechnik und Bioethik zum Ausdruck kommen, noch immer davon ausgehen, es bedürfe moralischer Normen und Richtlinien, die den Umgang mit den durch den technischen Fortschritt eröffneten Möglichkeiten regeln, insistierte Günther Anders in einer radikalen Umdeutung der moralischen Grundsituation auf der Erkenntnis, daß nicht etwa unsere moralischen Maximen den Gebrauch der Geräte steuern, sondern vielmehr die Maximen der Geräte uns die Richtlinien des Handelns vorgeben. Das bedeutet nicht nur, daß alles, was technisch möglich ist, schließlich auch verwirklicht werden wird, sondern auch, daß das, was erlaubt, geboten oder verboten ist, einzig davon abhängt, was die Geräte und die Technologien zulassen. Deshalb konnte Anders postulieren, im technologischen Zeitalter sei de facto ein „kategorischer Imperativ“ wirksam, der stärker als jedes Sittengesetz das tatsächliche Handeln der Menschen bestimme: „Handle so, daß die Maxime deines Handelns die des Apparats, dessen Teil du bist oder sein wirst, sein könnte“ – oder negativ formuliert: „Handle niemals so, daß die Maxime deines Handelns den Maximen der Apparate, deren Teil du bist oder sein wirst, widerspricht.“22

      Die Grundthese von Anders für eine der Zeit angemessene Ethik lautet also, daß das Sollen dem Menschen letztlich von den Maschinen abgenommen wird – eine Prämisse, die nicht nur die großen Fragen hinsichtlich der Zukunft der Menschheit, sondern auch die Alltagsmoral betrifft: „Produkte, also Dinge, sind es, die den Menschen prägen. In der Tat wäre es kaum eine Übertreibung zu behaupten, daß Sitten heute fast ausschließlich von Dingen bestimmt und durchgesetzt werden. […] Sofern wir heute einen Benehmenskodex haben, ist dieser von Dingen diktiert.“23 Das Sollen wird also durch die Apparate, mit denen wir uns umgeben, in ein Müssen umgewandelt, aus Handlungsmöglichkeiten werden Notwendigkeiten, die gleichsam als naturhafte Sachzwänge erscheinen. Freiheit und damit die Möglichkeit, als Mensch zu agieren, lassen sich allein in einer immer wieder herzustellenden Souveränität gegenüber den Technologien bewahren, denn es gilt: „Jeder hat diejenigen Prinzipien, die das Ding hat, das er hat.“24 Deshalb gab Anders seiner positiven Neuformulierung des kategorischen Imperativs folgende Form: „Habe nur solche Dinge, deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten.“25 Welchen Maximen eine Moral auch immer folgen will – die Bedingung für deren Möglichkeit entscheidet sich am Verhältnis dieser Maximen zu den in der Technik immer schon mitgelieferten Handlungsanweisungen und Normierungen des Denkens und Handelns. Man könnte diese Überlegung auch den Neuformulierungen des kategorischen Imperativs bei Hans Jonas gleichsam vorschalten: Wer an einer Permanenz echten menschlichen Lebens interessiert ist, muß aufpassen, ob er dieser Intention nicht einfach dadurch widerspricht, daß er Geräte verwendet, zu deren immanenter Logik es gehört, eben jenes „echte menschliche Leben“ zu destruieren. Aus solch einem Ansatz resultierte keine blinde Technikfeindlichkeit, wohl aber eine vernünftige Reflexion eines jeden über die immanenten Ziele unserer Apparaturen. In detaillierteren Analysen – so Günther Anders zum Fernsehen, Hans Jonas zu Fragen der Medizinethik – haben beide Denker vorgeführt, wie solch eine Reflexion aussehen kann.26 Wenngleich sich beide Denker also in der Frage nach der Begründbarkeit der Existenz der Gattung Mensch deutlich unterscheiden, können in den Ansätzen zu einer Ethik, die auf die Fortsetzung menschlichen Lebens auf der Erde abzielt, durchaus Übereinstimmungen festgestellt werden.

      Dieses Phänomen einer gleichzeitigen intellektuellen Nähe und Ferne läßt sich noch in einem weiteren Themenbereich ihres Denkens feststellen. Beide Philosophen, die aus säkularen jüdischen Familien stammten und durch die Vernichtungspolitik der Nazis in existentieller Weise auf ihr Judentum verwiesen worden waren, hatten sich, wenn auch erst Jahrzehnte später, der schmerzhaften Frage nach den Folgen der Schoah für den Glauben an den biblischen Gott und für eine moderne Auseinandersetzung mit der Theodizeeproblematik gestellt. In der Frage allerdings, welche religionsphilosophischen oder theologischen Konsequenzen aus den Massenmorden