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Weiterwohnlichkeit der Welt


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mehr vereinbar. Daß Anders im Gegensatz zu Jonas demonstrativ darauf verzichten wollte, den Sinn menschlichen Lebens metaphysisch zu begründen, motivierte auch seinen radikalen Atheismus, für den Auschwitz und Hiroshima so etwas wie letzte, furchtbare Bestätigungen darstellen. In letzter Instanz war aus seiner Sicht nicht nur die Existenz des Menschen unbegründbar, sondern auch der Sinn seines Lebens. Der in der populären praktischen Philosophie so beliebten „Sinnfrage“ hatte Anders stets eine harte und konsequente Absage erteilt. Schon in den frühen Studien zur Philosophie Heideggers heißt es: „Säkularisiert man das Dasein, so begibt man sich der Möglichkeit einer Sinn-Philosophie. […] Denn der Sinnbegriff ist ohne Transzendenz ‚sinnlos’. […] Wir haben keinen Sinn. Denn ‚Sinn’ hat nur das Unfreie.“36 Nur solche Dinge haben einen Sinn, deren Zweck von jemandem bestimmt ist und über die verfügt werden kann. Das Leben des Menschen, auch das der Gattung Mensch, hätte nur dann einen Sinn, wenn es von einer übergeordneten Instanz als Zweck, als Mittel für etwas anderes ausersehen wäre. Dem Leben einen Sinn geben, hieß für Anders immer, sich seiner Freiheit und damit der Möglichkeit der Selbstbestimmung zu berauben, also „für“ etwas anderes oder für jemand anderen dazusein.

      Später hat Anders diese in der Auseinandersetzung mit Heidegger entwickelte Kritik des Sinnbegriffs in einer Analyse der „Antiquiertheit des Sinns“ verallgemeinert: „‚Sinn haben für …’ bedeutet (immer): heteronom sein, Mittel für einen Zweck sein, unfrei sein. Ist es wirklich so gewiß, daß Sinn-Haben ein Ehrenprädikat, und daß keinen Sinn zu haben, ein Manko ist? Läuft nicht vielleicht letztlich unsere Suche nach Sinn auf Suche nach Dienstbarkeit hinaus, auch wenn wir diesen Sinn (weil wir ihn nicht finden) ‚tief’ nennen …?“37 Darüber hinaus wies Anders darauf hin, daß die philosophische Tradition fast nie nach dem „Sinn von Positivem“ gefragt hatte, sondern immer nur nach dem Sinn von Leid, sich also an den Negationen des Lebens entzündete, deren „Dasein“ mit dem „Willen Gottes“ nicht hatte vereinbart werden können und deshalb Rechtfertigung erforderte. Die modisch gewordene Sinnfrage erweist sich also als die „säkularisierte Version der Theodizee-Frage.“ Sie ist die „getarnte Rechtfertigungsfrage des Atheisten.“ Will man keinen Gott annehmen, der mit den Menschen etwas „im Sinn“ haben könnte, so gibt es auch keine vorgeordnete Bestimmung oder Funktion des Menschen. Mit dem „Tod Gottes“, so Anders, sei auch der „Tod des Sinns“ zu proklamieren: Wir sind „Nichtgemeinte“, die „ungesteuert durch den Ozean des Seienden treiben.“38

      Gerade gegenüber diesem „Nichtgemeintsein“ hat Hans Jonas Widerspruch angemeldet: „Ich bin jedoch zutiefst davon überzeugt, daß der reine Atheismus falsch ist, daß es darüber hinaus etwas gibt, was wir nun vielleicht nur noch mit Hilfe von Metaphern zur Sprache bringen können, ohne das jedoch die Gesamtsicht des Seins unverständlich wäre.“39 Jonas’ Verantwortungsethik ist theoretisch deshalb auch von dem Bestreben, die „Gesamtsicht des Seins“ zu verstehen, nicht zu trennen. In ihren praktischen Konsequenzen ähnelt sie allerdings der voraussetzungslosen praktischen Moral von Günther Anders: Beide Konzeptionen sind von großer Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt getragen, beide Konzeptionen fürchten um die Zukunft des Menschen. Philosophisch wäre an dieser Stelle weiterzufragen, welchen Stellenwert Begründungsversuche oder deren Verweigerung und die Konzeption von Transzendenz oder deren Verneinung für das praktische Handeln, dem es um den Menschen geht, eigentlich besitzen. Denn eine entscheidende Frage müssen beide Denker schließlich offenhalten: die Frage nach dem, was letztlich das Menschengemäße genannt werden könnte. Das „echte menschliche Leben“, dessen Permanenz Jonas einfordert, bleibt im Konkreten so unbestimmt wie das Kriterium, an dem Günther Anders die „Antiquiertheit“ des Menschen abliest. Die Schärfe und Luzidität, mit welcher die einander so ähnlichen und dennoch so differenten Freunde ihre Positionen vorgetragen haben, enthebt uns nicht der Aufgabe, angesichts jeder neuen Technologie und angesichts der fortgesetzten oder jederzeit fortsetzbaren nuklearen Hochrüstung die Frage danach, was es heißen kann, als Mensch menschlich zu leben, immer wieder neu zu stellen.

      Christian Wiese

       Zwiespältige Freundschaft: Reflexionen über Hans Jonas und Gershom Scholem

       I.

      Am 15. August 1940 trug Hans Jonas bei einem feierlichen Anlaß im Hause Salman Schockens in Jerusalem einen köstlichen Text mit dem Titel „Aus einem ungedruckten Fragment zum ‚Zauberberg’ von Thomas Mann“ vor. Ganz im Stile des Dichters zeichnete er darin – in der Gestalt des „Fremden“ – ein lebendiges Bild seines Freundes und zionistischen Mitstreiters Gershom Scholem, während er sich selbst als Settembrini stilisierte:

      „Als die Vettern sich der Wegbiegung näherten, wurden sie auf das anschwellende Stimmengetön einer Unterhaltung aufmerksam, die offenbar in lebhaftestem, um nicht zu sagen heftigstem Gange war und bei der ihres Freundes Settembrini vertraute und wohllautende Stimme nur mit Mühe sich gegen ein rücksichtsloseres Organ von ganz unhumanistischer Streitbarkeit und sturzbachähnlicher Redefülle und -geschwindigkeit zu behaupten schien. Jetzt war sie gar vollends darin ertrunken wie ein Schwimmer, der erschöpft den Kampf gegen die Übermacht des Elementes aufgibt und mit dem Kopfe immer längere Zeiten unter Wasser bleibt […]. Ein schon nicht mehr hörbarer Einwurf Settembrinis, vielleicht nur der Versuch zu einem solchen, war soeben mit dem leidend-ungeduldigen Ausruf ‚Wenn sie mich doch nur ausreden ließen!’ von dem Fremden zum Schweigen gebracht worden, der dann auch ohne Aufenthalt, wenn auch keineswegs in fließender, sondern vielfach von gezogenen Vokalen und Flickworten wie ‚Dingsda’ unterbrochener Rede die so geschaffene Alleinredefreiheit zu nutzen fortsetzte. Nein, ein Dialog, wie ihn sich die alten Protagonisten des Wechselgesprächs bei uns hier oben so oft in pädagogischer Absicht vor lernbegieriger Jugend geliefert hatten, war das nicht. Von jenem bei aller Schärfe eleganten Duell nach ungeschriebenen Regeln, bei dem mit angestrengter Höflichkeit oder auch mit verhaltener Schadenfreude der Eine den Andern ausreden ließ, um dann mit wohltemperierter Stimme zu gesetzter Gegenrede anzuheben, gewiß, dabei des gleichen Vorzuges wie jener sich versehen zu dürfen – kurz, von der schätzenswerten Konvention gesitteter Gesprächskunst, nach Settembrini der Mutter der Freiheit und des Fortschritts, konnte hier nicht wohl die Rede sein. ‚Sieh da, Freund Settembrini in Nöten’ dachte Hans Castorp und beschleunigte mit erfreuter Spannung den Schritt, während er den widerstrebend mithaltenden Joachim daran erinnerte, wie sie an beinah eben dieser Stelle zum ersten Mal dem kleinen scharfen Naphta in der Gesellschaft Settembrinis begegnet waren. Alsbald wurden sie auch des Paares ansichtig, und Hans Castorp konnte seine Neugierde in betreff des Fremden im Näherkommen befriedigen. Sagten wir ‚des Fremden’? In der Tat, eine fremdartigere Erscheinung war selten hier oben gesehen worden. Auf langen Beinen daherschreitend, die bei jedem Schritt eine leichte Auswärtsbewegung beschrieben, so daß sie der ganzen Gestalt eine Art von Schlingern mitteilten; mit langen Armen und riesigen Händen gestikulierend, wobei die eine noch ihr besonderes Spiel mit einem Gegenstande trieb, der sich bei näherem Zusehen als ein in rastlosem Zwirbeln abwechselnd zu einem Röhrchen gerollter und wieder entrollter Papierstreifen erwies; den Oberkörper leicht vorgebogen und den Kopf aus dem Nacken nochmals vorgeschoben; mit Ohren, deren Ausmaße denen der anderen Extremitäten nicht nachstanden – hatte die Gestalt des Fremden trotz des im gesitteten Abendlande üblichen Sakko-Anzuges, mit der sie bekleidet war, wohl infolge ihrer vielfältig schlenkerigen Bewegungen etwas so Phantastisches, und wir möchten sagen, Flatterndes an sich, daß es die Freunde kaum gewundert hätte, wenn er bei einbrechender Dämmerung wie eine Fledermaus schwärzliche Flügel entfaltet und sich schaukelnden Fluges über das in Dunkel sinkende Tal hin entfernt hätte.

      Vorderhand aber ereignete sich nichts dergleichen, wenn auch der Inhalt der Rede, in der der Fremde begriffen war, seltsam genug war und auch bizarrere Möglichkeiten als diese in den Bereich des Erwartbaren und sozusagen Selbstverständlichen zu rücken schien. ‚Bekanntlich’, so hörte Hans Castorp ihn gerade sagen, ‚bekanntlich haben Gespenster keinen Umriß.’ Hier gelang es Settembrini, mit feiner Würde die Feststellung anzubringen, daß ‚bekanntlich’ die Vernunft von Gespenstern nichts wisse, auch nichts davon zu wissen wünsche und glücklicherweise mit diesem mittelalterlichen