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Weiterwohnlichkeit der Welt


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biologisch begründet, und nicht ganz zu Unrecht hat ein weiterer Heidegger-Schüler, Herbert Marcuse, in Hegels Philosophie des Lebens den Ursprung seiner Theorie der Dialektik sehen wollen.31 Wie bei Aristoteles und bei Hegel erhebt sich die Geistphilosophie einesteils auch bei Jonas über einer Philosophie des Organischen. Und wie bei beiden Vorläufern ist andernteils auch bei Jonas die Biologiephilosophie insofern auf den Geist hin angelegt, als dem Organischen eine Dimension der Innerlichkeit eignet, die von der kybernetischen Biologie zu Unrecht ausgeblendet worden sei.32 Für alle drei ist der Geist die „natürliche“ Fortsetzung des Organischen, doch ihre Philosophie wird deswegen nicht naturalistisch, weil der Organismus als auf den Geist hin angelegt konzipiert wird. Ja, alle drei Denker sehen im Organismus etwas besonders Werthaftes, ja geradezu eine Manifestation des Göttlichen in der Welt (was bei keinem der drei bedeutet, daß Gott nur innerhalb der Welt zu finden sei).

      Bemerkenswert ist, daß Jonas zwar in jeder Hinsicht die Darwinsche Umgestaltung der Biologie mitgemacht hat, daß er aber gleichzeitig mit Nachdruck, und mit vollem Recht, jene Bestandteile der traditionellen Biologiephilosophie verteidigt, die nur ein oberflächliches Denken als mit dem Darwinismus inkompatibel ausgibt – ich meine etwa die Lehre von der scala naturae.33 Von besonderer Dichte sind seine Überlegungen zum Unterschied von Tier und Pflanze, die nicht nur bei Aristoteles und Hegel,34 sondern auch bei den nur wenig älteren Max Scheler und Helmuth Plessner vorgeprägt sind. Am originellsten sind Jonas’ Analysen zum Wesen des Organischen, die den Metabolismus ins Zentrum stellen, der, wie Jonas wohl wußte, auch in Aristoteles’ und Hegels Biologiephilosophie eine wichtige Rolle spielt,35 allerdings der Teleonomie der Gestalt und der Reproduktion untergeordnet wird. Die Angewiesenheit des Organischen auf die umgebende Welt, von der es sich zugleich unterscheiden und absetzen muß, ist für Jonas eine jener Antithesen, die das Leben ausmachen, wie die „von Sein und Nichtsein, von Selbst und Welt, von Form und Stoff, von Freiheit und Notwendigkeit.“36 Hierin liegt eine deutliche Nähe Jonas’ zu Hegels Dialektik, so sehr Hegel das Denken in Antithesen und ihren jeweiligen Synthesen auf die ganze Philosophie ausgedehnt hat und so sehr er über eine Methode apriorischer Begriffsbildung zu verfügen beansprucht, die Jonas’ deskriptiv-phänomenologischem Zugang fremd ist. Der evidente Vorteil des Hegelschen Ansatzes ist, daß er über eine wenigstens ansatzweise Antwort auf die Frage verfügt, wann die Konstruktion eines philosophischen Gebietes vollständig ist.

      Auch wenn Hegels und Jonas’ Philosophie des Organischen sowohl in ihrer Stellung im ganzen der jeweiligen philosophischen Konzeption als auch in zahlreichen Details erstaunlich ähnlich sind, empfand Jonas ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber dem Hegelschen System – hier wirkte vielleicht die frühe Schopenhauer-Lektüre nach.37 Die Verwendung der Dialektik zum Zwecke einer metaphysischen Erfolgsstory hat Jonas besonders im Bereich der Geschichtsphilosophie abgelehnt, weil er keine Möglichkeit sah, den Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts einen Sinn abzugewinnen, ja derartige Versuche als Beleidigung der Opfer – etwa seiner in Auschwitz ermordeten Mutter – betrachtete. „Die Schmach von Auschwitz ist keiner allmächtigen Vorsehung und keiner dialektisch-weisen Notwendigkeit anzulasten, etwa als antithetisch-synthetisch erforderter und förderlicher Schritt zum Heil. Wir Menschen haben das der Gottheit angetan als versagende Walter ihrer Sache, auf uns bleibt es sitzen, wir müssen die Schmach wieder von unserem entstellten Gesicht, ja vom Antlitz Gottes, hinwegwaschen. Man komme mir hier nicht mit der List der Vernunft.“38

       III.

      Nicht nur ein umfassender Systembau, auch die spezifisch transzendentale Denkform ist Jonas fremd geblieben. Zwar spielen Selbstaufhebungsargumente in seiner Kritik am Epiphänomenalismus eine Rolle,39 aber vermutlich hat Jonas auch die Abneigung gegenüber dem Transzendentalismus von Heidegger übernommen, und zwar auf Grundlage der falschen Annahme, transzendentale Argumente führten zum Subjektivismus. Nun zeigt sicher Kants theoretische Philosophie eine Verbindung von Transzendentalismus und Subjektivismus, aber seine praktische Philosophie kann ganz gewiß nicht als subjektivistisch bezeichnet werden. Und in der Tat ist es so, daß die zentralen Intuitionen von Jonas’ Ethik kantianisch sind, auch wenn das angesichts von Jonas’ Polemik gegen den Kantischen Formalismus40 dem Leser von Das Prinzip Verantwortung nicht leicht auffällt. Immerhin hat Jonas vom ersten Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die er früh las, gesagt, er habe „wie ein Donnerwort durch mein Leben geklungen.“41 Es ist dieses Donnerwort, das ihn vor der moralischen und ethischen Paralyse bewahrt hat, die von Heideggers Denken ausging, und ihn befähigt hat, die neben der Diskursethik innovativste ethische Theorie der deutschen Nachkriegsphilosophie vorzulegen, die lange gebraucht hat, um auch nur das Desiderat einer praktischen Philosophie einzusehen.

      Jonas’ bleibende Leistungen in der Ethik bestehen darin, erstens die Objektivität moralischer Verpflichtungen und zweitens ihre Irreduzibilität auf das wohlverstandene Eigeninteresse hervorgehoben zu haben – und dabei handelt es sich um zwei entscheidende Ideen Kants.42 Bei intergenerationellen Verpflichtungen, so Jonas, falle die Reziprozität weg, und allgemein gehe es in der Ethik darum, kategorische, nicht hypothetische Imperative zu fundieren.43 Damit ist der Eudämonismus der aristotelischen Ethik verlassen, und auch die nicht-hypothetischen Imperative des Utilitarismus und der Diskursethik werden in ihrem materialen Inhalt zurückgewiesen, weil Jonas in einem mit der Würde und der Berufung des Menschen erkauften Einverständnis und Wohlgefühl späterer Generationen nicht nur nichts Positives, sondern sogar eine Vergrößerung der Schuld der dafür verantwortlichen früheren Generationen sieht. „Es bedeutet, daß wir im letzten nicht das antizipierte Wünschen der Späteren konsultieren (das unser eigenes Erzeugnis sein kann), sondern ihr Sollen, das nicht von uns gemacht ist und über uns beiden steht. Ihnen ihr Sollen unmöglich machen ist das eigentliche Verbrechen, dem alle Vereitelungen ihres Wollens, schuldhaft genug wie sie sein mögen, erst an zweiter Stelle folgen. Das bedeutet aber, daß wir nicht so sehr über das Recht künftiger Menschen zu wachen haben […] wie über ihre Pflicht […]“.44

      Jonas’ Kritik an Kant ist sicher insofern unfair, als Jonas nur eine der verschiedenen Formulierungen von Kants kategorischem Imperativ diskutiert und nicht sieht, daß dieser aus den anderen Formulierungen materiale Gehalte abzuleiten sucht, die von den Jonasschen nicht sehr entfernt sind. Ja, es mag sogar sein, daß Jonas’ alternativer kategorischer Imperativ „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“45 Kant nicht nur nicht über-, sondern sogar unterbietet, weil er vielleicht nicht ausreicht, um Individualrechte zu begründen – das hängt jedenfalls von seiner Interpretation ab.46 Auch die Begründung des Jonasschen Imperativs ist in Das Prinzip Verantwortung recht dunkel – ein Appell an Intuitionen47 findet sich merkwürdigerweise am Ende eines komplexen Arguments, nach dem in der Natur nicht nur Zwecke, sondern auch Werte zu finden seien. Das Argument ist nicht einfach zu rekonstruieren, aber sein Zentrum scheint der Gedanke zu sein, daß der Selbstzweckcharakter des Lebens ein wichtiger Zweck der Natur selbst, ja ein Gut an sich oder Wert sein müsse,48 weil es nicht möglich sei, Zweckhaftigkeit selbst zu negieren, ohne sich diese Negation selbst zum Zweck zu machen. Jonas sagt: Zwar sei etwas relativ gut – also nur de facto, aber nicht de jure gut – bloß im Lichte faktischer Zwecke, aber bei Zweckhaftigkeit an sich liege die Sache anders. „In der Fähigkeit, überhaupt Zwecke zu haben, können wir ein Gut-an-sich sehen, von dem intuitiv gewiß ist, daß es aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen ist.“49 Jonas läßt offen, ob es sich dabei um einen analytischen oder synthetischen Satz handle, und er schwankt zwischen der Berufung auf die Evidenz des Satzes und der Verwendung eines apagogischen Argumentes: Die Nirvanalehre sei selbstwidersprüchlich, weil sie die Befreiung von allen Zwecken zum Zwecke mache. Zwar meint Jonas, daß die Unmöglichkeit eines negativen Urteils nicht ausreiche, um zu einem bejahenden Urteil zu verpflichten,50 und daher bleibt jener Satz bei ihm letztlich axiomatisch. Aber wer von apagogischen Begründungen höher denkt als Jonas, wird in jenen Reflexionen den argumentativen Kern von Das Prinzip Verantwortung erblicken.

      Jonas’ Argument scheint nun, anders als etwa die transzendentalpragmatische Letztbegründung der Ethik, Möglichkeiten