Luce Brett

Ich bin nicht ganz dicht


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mehr Kinder bekommen kann. Aber es alarmiert mich, dass das überhaupt fraglich war. Womöglich habe ich doch ein echtes Problem?

      Ich strahle sie an, bemüht, meine Erleichterung zu zeigen. Hurra! Noch mehr Babys! Und spüre, wie mir das Lächeln im Gesicht einfriert und die Tränen kommen. Ich würde ja versuchen, sie mit einem Husten zu überspielen, aber ich habe gerade meine Leggings angezogen und möchte mir nicht schon wieder in die Hose machen.

      „Nun, es könnte wohl schlimmer sein“, sage ich, und schäme mich wegen des leichten Zitterns in meiner Stimme.

      Sie schaut mich an und seufzt, als täte es ihr dieser ganze Schlamassel unendlich leid. Dass es da unten so katastrophal bei mir aussieht. Vielleicht ahnt sie, wie es sich anfühlt, wieder hier zu sein, nur ein paar Flure entfernt vom Ort des grausigen Geschehens, wenn ich doch eigentlich beim Babymassagekurs sein sollte. Dieser Anflug von Mitgefühl ist das Schlimmste. Ich fühle mich schutzloser als in dem Moment, als ich nackt auf der Liege lag. Es scheint, als könne sie genau sehen, wie zerbrechlich ich bin in meinem Still-BH, mit den ungewaschenen Haaren und einem Make-up, das nicht mehr zu meinem Gesicht passt.

      Sie fügt hinzu, dass ich „30 Prozent Gefühl“ habe. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Sie klingt hoffnungsvoll, doch ich höre schon gar nicht mehr so genau zu.

      Sie erzählt etwas von „konservativen Maßnahmen“ und „Beckenbodenübungen“. Über Operationen müssen wir uns noch keine Gedanken machen. Wir können mit dem „Blasentraining“ beginnen, sobald ich mein „Blasentagebuch“ geführt habe.

      Ich erhalte einige Infobroschüren. Auf allen steht dick und fett „Blase“. Beim Überfliegen bleibe ich an einigen Worten hängen: trinken, messen, aufzeichnen. Gleichzeitig höre ich sie von Routine, Biofeedback, Ordnung, Aufzug und Ampel reden. Nichts davon ergibt einen Sinn.

      Mit schwirren tausend Fragen im Kopf herum, aber ich kann sie nicht stellen. Sie rutschen mir immer wieder durch die Finger. Ich sollte eigentlich ganz woanders sein und meinen Mutterschaftsurlaub genießen, nachdem die Nähte verheilt sind und diese verrückte und schlimme Geburt endlich vorbei ist. Ich hole tief Luft und versuche, gegen die aufkommende Panik anzuatmen. Ich will ihr sagen, dass ich für all diesen Mist keine Zeit habe, dass ich viel zu jung dafür bin. Und selbst wenn da unten alles kaputt sein sollte, habe ich derzeit ganz andere Prioritäten – ich muss schließlich eine neue Identität entwickeln, 10 kg abnehmen und einen kleinen Menschen großziehen.

      Aber natürlich kann sie nichts dafür, also tue ich das Einzige, zu dem ich gerade in der Lage bin: Ich setze mein nettestes Lächeln auf, binde mir die Strickjacke um die Hüfte und tue so, als würde mir all das nichts ausmachen. Als gingen mir die Worte „inkontinent“, „vaginal“ und „Riss“ leicht über die Lippen und als wüsste ich genau, was die richtige Tena-Lady-Größe für mich ist.

      Ich beschließe, mich bei ihr für ihre Zeit zu bedanken und strecke ihr die Hand entgegen. Aber irgendwie greifen wir aneinander vorbei. Die alltägliche Berührung fühlt sich merkwürdig, unwirklich und falsch an, und nun schäme ich mich wirklich. Aber ich rette die Situation. Ich sage ihr, dass ich mein Tagebuch führen und meine Übungen machen werde. Schauen Sie! Ich habe „3 x 10“ auf meine Broschüren geschrieben, um es ja nicht zu vergessen. Nächste Woche werde ich wieder hier antreten, mit meinem neuen und tapferen Ich. Ich salutiere beinahe.

      Als sich die Tür hinter mir schließt, schaue ich auf den blaugrauen Vinylboden und beiße mir auf die Lippe, aber es ist bereits zu spät. Tränen quellen aus meinen Augen und fließen meine Wangen hinunter. Ich kann sie nicht aufhalten, aber ich kann es auch nicht ertragen, dass mich jetzt jemand weinen sieht. Für heute kann ich kein Mitgefühl mehr ertragen. Also suche ich nach der nächsten Toilette. Ich laufe schneller, als ich es seit Langem getan habe. Das war, bevor ich schwanger und unförmig wurde, und es fühlt sich an wie ein anderes Leben. Ich stürme in die Kabine und ignoriere die Urinspur, die ich hinter mir herziehe, und meine nassen Socken und Schuhe.

      „Wie zum Teufel bin ich nur hier gelandet?“, denke ich, während ich langsam an der Wand nach unten gleite und auf den Boden sinke. „Und was zum Henker soll nur aus mir werden?“

TEIL 1

      Kapitel 1

      Kein Blatt vor den Mund

      Das Leben verläuft nicht immer so, wie wir es erwarten. Als ich mein erstes Kind zur Welt brachte, kam in den sozialen Medien gerade das Phänomen des „Sharenting“ auf, des Veröffentlichens von Bildern und Informationen über den eigenen Nachwuchs im Internet. Obwohl im Jahr 2007 weder Microblogging noch Fotofilter ein Thema waren, gab es doch zunehmend die Erwartung, dass wir alle ein Leben führen konnten (und sollten), was man auch mit aller Welt teilen konnte. Fotografische Einblicke sollten belegen, dass wir es in jedem Lebensbereich echt draufhatten.

      Meine erste Geburtserfahrung passte nicht so ganz in dieses Schema. Mein Körper und mein Verstand stellten ihre Funktion ein, und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie eigentlich ihre volle Blüte hätten erreichen sollten. Ich verließ die Neugeborenen-Station im reifen Alter von 30 Jahren mit einer Reihe von Inkontinenzproblemen, die sich in den darauffolgenden 10 Jahren zu einem epischen Drama auswachsen sollten. Der Zusammenbruch meines Entsorgungssystems wurde von einer Kombination aus relativ normalen, aber bleibende Schäden hinterlassenden Verletzungen, Pech und einer vererbten körperlichen Überbeweglichkeit verursacht, die ich immer für eine gute Sache gehalten hatte. Die Tatsache, dass ich als Teenager einen Spagat beherrschte, bedeutete einfach, dass meine Muskeln und Bänder sich leicht überdehnen ließen – vor allem die in meinem Beckenboden, die dafür sorgen, dass im Bauchraum alles an Ort und Stelle bleibt. Nach der Geburt war ich auch mental angeschlagen. Ich erlebte aus erster Hand, warum Inkontinenz zu den letzten medizinischen Tabus zählt – und zu den hartnäckigsten.

      In einer Gesellschaft, die die Anzeichen des Alters ebenso fürchtet wie das Altern selbst und sich gerne bewertend und scharfzüngig auf Schwächen und Fehlbarkeiten stürzt, ist kein Platz für das Thema Inkontinenz. Inkontinenz hält uns den Spiegel unserer Ängste vor und macht uns bewusst, dass der körperliche Verfall uns allen droht, und mit ihm die öffentliche Beschämung.

      Von Inkontinenz sind mehr Frauen betroffen als Männer – ein weiterer Grund, weshalb das Thema nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient hat. Und es gibt die mehr oder weniger offen geäußerte Ansicht, dass Inkontinenz einfach zum Frausein dazugehört und jeder weibliche Körper früher oder später davon betroffen ist. Sei es aus Unwissenheit oder Streitlust – Mediziner, und auch viele Frauen, halten an der alten Lüge fest, dass Inkontinenz Teil des Älterwerdens ist. Etwas, mit dem Frauen sich einfach abfinden müssen – wie mit Falten oder mit Männern, die uns die Welt erklären.

      Es ist im Übrigen ein weltweites Phänomen, das eine Lawine von Kummer, Verzweiflung und Vernachlässigung nach sich zieht. Inkontinenz ist so stigmatisiert, dass die Betroffenen oft keine Stimme haben und an den Rand der Gesellschaft gedrückt oder ignoriert werden. Sie tragen schwer an ihrer Scham und denken häufig, sie hätten keine Behandlung verdient. Laut Forschungen des National Childbirth Trust aus dem Jahr 2016 schämten sich 38 Prozent der Britinnen mit Inkontinenz zu sehr, um sich einer medizinischen Fachkraft anzuvertrauen.1 Manche reden nicht einmal mit dem Partner oder der besten Freundin darüber.

      Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was mit mir passiert war. Ich musste mir die ganze Geschichte wie ein Mosaik aus Krankenhausbriefen, Blogs, Erinnerungen, Arztberichten, hastig gekrakelten Notizen zu Beratungsstellen und gemeinnützigen Vereinen, Medienberichten, medizinischen Forschungsbeiträgen und Aufklärungskampagnen zusammensetzen.

      Ich fand jede Menge Informationen darüber, dass Betroffene sich Hilfe suchen sollten und diese auch bekommen würden. Seltener fand ich Berichte, in denen Betroffene ihre eigenen Erfahrungen schilderten oder offen über den Schmerz und das Chaos, die Kosten und die Absurdität des Ganzen sprachen.

      Genau das versuche ich nun mit diesem Buch zu tun. Es enthält Momentaufnahmen aus dem vergangenen Jahrzehnt und schildert mein Denken und meine Erfahrungen in einer Zeit, in der