Luce Brett

Ich bin nicht ganz dicht


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sein, was mir bevorstand?

      Ich habe nicht erwartet, dass eine Geburt so schrecklich sein konnte. Tatsächlich habe ich mein Leben lang die Tatsache ignoriert, dass Geburten verrückt, grauenhaft, ermüdend und schier endlos sein können. Auch wenn ich nicht so naiv war zu glauben, dass sie leicht oder toll sind oder wunderbar bestärkend, war ich doch in keiner Weise auf die hüftsprengende Explosion gefasst, die meinen Körper und mein Selbstbild zerstörte. Oder das epische Aufräumen nach der Veranstaltung. Man denkt ja immer, Frauen könnten mit jedem Schlamassel umgehen. Ich bin da wohl eher die sprichwörtliche Ausnahme.

      Meine ausgeprägtesten Vorstellungen von einer Geburt zog ich aus denen, die ich selbst „miterlebt“ hatte – im Fernsehen oder in Romanen und Gedichten –, obwohl ich mir selbst da schon die Rosinen herauspickte. Während meiner Schwangerschaft war ich nahezu süchtig nach Geburten im Fernsehen. Die reale und fiktionale Ankunft eines neuen Lebens in einfach erzählten Geschichten. Beginnend mit einem hoffnungsvollen Bauchansatz und endend mit einem Baby. Die meisten waren entweder romantisch verklärt oder hoch dramatisch und ließen die banalen Details ebenso aus wie all das, was auf die Geburt folgte.

      Erst im Jahr 2012, als die TV-Serie Call the Midwife – Ruf des Lebens radikale Ehrlichkeit ins britische Sonntagabendprogramm brachte, sah ich Bilder, die erahnen ließen, dass sowohl die Geburtserfahrung als auch der Schwangerschaftsbauch selbst nach Verlassen des Kreißsaals noch Spuren hinterließen. Die Geschichten, inspiriert von den Memoiren einer Hebamme, erforschen die schönen und schrecklichen Seiten der Geburt als Teil des gesamten Lebens einer Frau – von gefährlichen illegalen Abtreibungen und Blutvergiftungen bis hin zu Inkontinenz, Geburtstraumata, Adoption, Prolaps, Verbluten, Schlaganfällen bei der Geburt und Depressionen.

      Ich will nicht unfair sein. Die Serie behandelt auch weniger dramatische und wichtige Situationen nach der Geburt und zeigte uns jede Woche neue Frauen. Einsame Mütter, glückliche Mütter, erleichterte Mütter, knapp mit dem Leben davongekommene Mütter, traumatisierte Mütter, gramgebeugte Mütter, bestärkte Mütter. Nette Frauen, böse Frauen, glückliche Frauen. Vor allem aber zeigten die Geschichten eines: Eine Geburt verändert alles, also ist es nahezu unmöglich, das frühere Leben einfach weiterzuführen, als wäre nichts geschehen. Diese Lektion hätte ich gerne schon gelernt, bevor ich zum ersten Mal schwanger wurde.

      Die Landschaft der Fiktion bietet uns verschiedene Versionen unserer selbst, Vorstellungen davon, wie wir sein könnten oder sollten (oder auch nicht). Sie haben nichts mit dem echten Leben zu tun, und dennoch setzen sich diese Vorstellungen in uns fest, geben uns Hoffnung und unterhalten uns, fördern aber auch ein träumerisches Anhaften an ein Leben, das wir in Wirklichkeit nicht leben können.

      Während meiner Schwangerschaft gab es auf einem Sender eine Babystunde, die ich andächtig verfolgte. Und als bei Abby aus der Serie Emergency Room frühzeitig die Wehen einsetzten, heulte ich auf dem Sofa wie ein Schlosshund, bis mein Mann mir anbot (mich anflehte?) den Fernseher auszuschalten.

      „Neeiiiiiiin“, jaulte ich und bekam prompt Schluckauf. „Wenn Du den Fernseher ausschaltest (hicks), werde ich niemals (kurzer Schauer) erfahren (tiefer Atemzug), wie (tiefer erschaudernder Atemzug) es ausgegangen ist!“

      Die Charaktere von Emergency Room haben mich durch meine Zeit als Mädchen und Frau begleitet, mich bei Beziehungsschmerz getröstet und mein Singledasein versüßt. Auch beim ersten Zusammenziehen, meiner Hochzeit und nun meiner ersten Schwangerschaft sind sie meine treuen Begleiter.

      Es gibt Untersuchungen dazu, inwieweit die traumatische Natur von Geburten in Film und Fernsehen sich auf die Angst vor der Geburt bei werdenden Müttern auswirkt.1 Bei mir trat, glaube ich, trotz Abbys schrecklicher Geburtserfahrung die gegenteilige Wirkung ein. Meine geheimen Fantasien rankten sich nämlich eher um die Erfahrung von Daphne aus der australischen Serie Nachbarn, die ihr Baby vollständig bekleidet am Straßenrand bekam. Sobald Geburten begannen, wirklich angsteinflößend auszusehen, schaltete ich einfach innerlich ab und konzentrierte mich auf die nächste Episode, in der alles wieder gut war.

      Es war nicht so, dass ich noch nie zuvor Geburtsgeschichten gehört hatte, aber die Erzählungen waren eher lückenhaft, vielleicht weil die Menschen automatisch einiges auslassen, um schwangere Frauen (oder alle Frauen) nicht zu verängstigen. Hinzu kommt natürlich, dass Geburten seltsam sein können, man teils unter Medikamenteneinfluss steht und die Zeit sich ziehen kann. Wie erklärt man etwas, das chaotisch, medizinisch, natürlich, emotional, linear, episodenhaft, körperlich, traumgleich, religiös, langweilig, friedlich, beängstigend, leicht und schwierig zugleich ist?

      Als ich noch ein Kind war, erzählte meine Mutter mir geschönte Versionen ihrer Geburten, was für mein damaliges Alter ja auch besser geeignet war. Babys flutschten ihrer Aussage nach einfach so raus, ohne größere Probleme, ganz anders als bei den angsteinflößenden Geburten mit Notfällen und Geschrei in TV-Serien wie EastEnders oder Brookside. Ich konnte die Geschichten meiner Mutter auswendig aufsagen. Wie ihr bei mir die Fruchtblase geplatzt war und ich gleich darauf geboren wurde. Wie die Zwillinge am einem frostigkalten Aprilmorgen beinahe im Auto zur Welt gekommen wären. Und wie meine mittlere Schwester wie Supergirl mit ausgestreckter Hand aus ihr herausflog. Ich liebte diese Geschichten, weil sie so aufregend und schön waren. Nach den Details fragte ich nicht und lebte fröhlich mit diesen Familienschnappschüssen, bis ich selbst in den Wehen lag.

      Heute wünschte ich, ich hätte mehr gewusst. Vielleicht hat meine Generation frühere Generationen, die nicht mithilfe von Sex and the City oder später Girls gelernt haben, offen über ihre Geschlechtsteile zu reden, ein wenig belächelt. Womöglich haben wir uns sogar für besser gehalten mit all unseren Gesprächen über Orgasmen, G-Punkte (erinnern Sie sich?), Cunnilingus und die Vagina-Monologe. Aber sie, unsere Großmütter und deren Großmütter, waren zumindest klug genug, um vernünftig über Geburten miteinander zu sprechen, und sei es hinter verschlossenen Türen. Nun ja, zumindest diejenigen von ihnen, die sie überlebt hatten.

      Sie waren sogar bei Geburten anwesend oder bekamen zumindest die ganze Aufregung mit. Sie waren nicht vollkommen unvorbereitet. Und da war ich: In der einen Minute noch eine Karrierefrau, die kurz davor war, alles zu haben, mit einem prachtvollen Bauch, einem hübschen, aber ein wenig vagen Geburtsplan (ich wollte mich ja nicht aufspielen oder die Expertin raushängen lassen) und der Hoffnung auf eine stinknormale Wassergeburt. In der nächsten Minute: PENG! Kaputt.

      Ich kenne einige Frauen, die sich schrecklich von der Welt betrogen fühlten, weil niemand ihnen die Wahrheit gesagt hatte. Meine Wut richtete sich mehr dagegen, dass meine Mutterschaft nicht nur mit Blumensträußen, sondern auch mit zerstörten Körperteilen eingeläutet wurde. Ich hätte mich ausführlich informieren können, aber ich habe die Realität ignoriert und mich lieber an die geschönten Geschichten gehalten, die ich als Kind schon geliebt hatte.

      In der Woche, bevor ich meinen Sohn zur Welt brachte, erzählte meine Mutter mir, dass sie während der schlimmsten Momente auf ein Stück Stoff beißen musste, eine Art weiche Trense zwischen den Zähnen. Aber ich wollte zu dem Zeitpunkt schon nichts mehr hören, auch wenn ich später in ihre Fußstapfen treten sollte und so stark auf ein Mundstück eines Sauerstoffschlauchs biss, dass ich mir einen Backenzahn damit ruinierte.

      Wenn ich das, was mir widerfahren ist, mit ein wenig Abstand betrachte, stelle ich erstaunt fest, dass mir tatsächlich jemand während der Schwangerschaft ein Beispiel für einen Film lieferte, der die wahren Bilder einer Geburt zeigte, und zwar in Technicolor. Es war eine Freundin von der Arbeit, die gerade entbunden hatte, als ich im fünften Monat war.

      März 2007, eine Straße in London, ich tue so, als würde ich nicht die Augen vor der Wahrheit verschließen

      Es ist ein freundlicher Wintertag und der in meinem Bauch heranwachsende Fötus hat die Größe einer Mango erreicht. Meine Kollegin Cat, die sich eigentlich in Elternzeit befindet, schaut im Büro vorbei und wir essen zusammen zu Mittag. Wir sind vertieft in ein Gespräch über Geburten und ignorieren die Blicke, die uns auf der Straße treffen, wenn wir über Vagina und Co. reden. Die letzte Ultraschalluntersuchung hat gezeigt, dass ich einen Jungen erwarte, und ich fühle mich irgendwie erwachsen und nahezu selbstbewusst.

      Cat