Luce Brett

Ich bin nicht ganz dicht


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Obwohl sie mir sehr viel erzählt, habe ich das Gefühl, dass sie etwas auslässt, mich irgendwie schonen will. Ich spüre eine innere Spannung, es fühlt sich an, als wäre ich zurück in der Schule und würde mir ausmalen, wie das Leben als Erwachsene wohl sein wird. Und dann bleibt Cat plötzlich mitten auf dem Bürgersteig stehen. Sie starrt mich an und ihr wird wohl bewusst, wie verängstigt und schlecht vorbereitet ich bin. Sie sagt, sie müsse mir etwas erzählen, das eine andere Frau ihr gesagt habe, als sie ungefähr so weit gewesen sei wie ich. Ich habe solche Panik, dass es um den Stuhlgang während der Geburt geht, dass ich fast in Tränen ausbreche.

      Aber es kommt noch schlimmer.

      „Du weißt doch, dass viele behaupten, die Geburt ihres Kindes sei der schönste Tag im Leben. Dass es eine großartige Erfahrung ist, die sie genossen haben. Du weißt aber auch, dass es in Ordnung ist, wenn es nicht der beste Tag deines Lebens ist, oder? Wenn du es nicht großartig findest, also die Geburt meine ich. Versteh’ mich nicht falsch, es ist großartig, ein Baby zu haben und ich liebe meines sehr, aber es war wirklich nicht der beste Tag in meinem Leben, Luce. Und das ist ok. Vielen Frauen geht es so. Du musst dich nicht verpflichtet fühlen, es toll zu finden.“

      Das fühlt sich so erschreckend wahr an, dass mir der Kopf schwirrt. Ich schaue auf meinen Bauch, der noch frei von Dehnungsstreifen ist, aber schon Kugelform erreicht hat. Ich nehme all meinen Mut zusammen, um diesen Moment der Ehrlichkeit zu nutzen, und platze mit der Frage heraus, die ich schon längst jemandem hätte stellen sollen, und bin fest entschlossen, die Antwort zu glauben.

      „Wie war es denn nun tatsächlich?“, frage ich. „Wie ist so eine Wassergeburt?“

      „Der weiße Hai“, sagt sie, ohne zu zögern. „Es ist wie bei Der weiße Hai.“ Alles wird schwarz.

      Sommer 2007, die letzte Chance, alles zu erfahren: ein Gemeindesaal voller Frauen kurz vor der Geburt und ihre nervösen Partner

      Wir sind zurück in der Kirche und sitzen auf einem Nylonteppich. Maria und Josef schauen auf uns herab. Unsere Kursleiterin hat uns eingeladen, einen Kaiserschnitt nachzustellen, zum Glück ohne Requisiten, aber es fühlt sich trotzdem angesichts der Erfahrungen von Maria im Stall ein wenig ungehörig an.

      Wir werden gefragt, wie viele Menschen wohl bei einem Kaiserschnitt anwesend sind und auf welche Weise sie uns unterstützen. Ich denke an die arme Maria, allein in einem Stall zwischen all den Kuhfladen. Ich hoffe, Josef war die Art von Partner, die einem die Hand hält, anstatt grün anzulaufen, und dass die Frau des Herbergsbesitzers sie für ihre Tapferkeit gelobt hat, als sie beim Durchtrennen der Nabelschnur half. Es fühlt sich bescheuert an, eine Operation durchzuspielen, aber es soll sich noch als hilfreich erweisen. Nicht, weil ich mich an irgendwelche Einzelheiten erinnere, sondern weil es dann kein so großer Schock mehr war, zu realisieren, wie viele Menschen auf deinen nackten Intimbereich starren, wenn jemand auf den roten Knopf gedrückt hat.

      Wir reden über Geburtspositionen und stellen sie nach. Es ist genauso quälend, wie es klingt. Wir sind mit unseren Schwangerschaften schon zu weit fortgeschritten, um einander auf den Rücken zu klopfen und so zu tun, als hätten wir Wehen. Unsere Kursleiterin spürt unsere Unruhe und zeigt uns ein paar Diagramme auf Arbeitsblättern. Bei einer Position sitzt man rittlings auf einem Stuhl „wie ein Cowboy“, aufrecht, das Becken nach vorne gekippt und offen. Ich finde das alles sehr merkwürdig. Die Kursleiterin, die uns die Stellungen zeigt, sagt, dass sie alle auch gut auf der Toilette funktionieren.

      „Oh Gott“, denke ich. „Auf dem verdammten Klo?“

      In der folgenden Woche treffe ich eine andere schwangere Frau, die gerade mit ihrem dritten Kind schwanger ist. „Oh ja“, sagt sie, als ich ihr entsetzt von der Klo-Bemerkung erzähle. „Ich habe Stunden auf dem Klo verbracht. Es war der einzige Ort, wo ich eine bequeme Position finden konnte.“

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      Ich stelle mir vor, wie ich rittlings auf dem Klo hocke und mich an den Spülkasten klammere. Ich finde die Idee abstoßend, auf der Toilette zu sitzen und zu pressen, als sei mein Kind ein besonders großer Haufen. Und was, wenn das Baby ins Klo fällt? Ich will nicht, dass mein Mann mich so sieht. Wie ich die Toilette reite, als wäre sie ein Pferd. Das wäre wirklich das Unwürdigste überhaupt.

      Kapitel 3

      Geburt – was man bekommt

      Ich verbrachte die ersten Stunden meiner Wehen auf einer Toilette sitzend, stöhnend und im Cowboy-Stil den Spülkasten umklammernd. Und das war noch der am wenigsten entwürdigende Teil dieser schrecklichen 19 Stunden, und wahrscheinlich auch der folgenden zwei Jahre.

      Der ganze Vorgang von Anfang bis Ende ist eine Mischung aus Schock, endlosem Warten und Erniedrigung. Als es vorbei ist, schreibe ich als erstes eine SMS an Cat. Kein Name, kein Gewicht, keine Details. Nur eine Zeile: „ES IST EINE GOTTVERDAMMTE VERSCHWÖRUNG.“

      Wie nicht anders zu erwarten, beinhaltet diese Verschwörung Schreien, Muhen, Betteln und Wimmern, garniert mir körperlichem Zerfall und Warten. Das einzig Überraschende ist, dass ich ein paar derbe Witze reiße, deren Timing nahezu perfekt ist.

      Das ist alles, woran ich mich kurz nach der Geburt erinnern kann. Alles andere ist weg. Ich stehe neben meiner Pferdetoilette, die sich in einem an den Kreißsaal angeschlossenen Waschraum befindet, und schaue in einen Spiegel, der den gesamten Raum dominiert und eindeutig von einem Sadisten angebracht wurde. Da stehe ich, ein verrücktes, geisterhaftes Abbild meiner selbst, und starre auf eine schlaffe Parodie meines süßen runden Babybauchs. Meine Knie sind blutverschmiert, Pipi und Blut laufen mir an den zittrigen Beinen hinunter. Die warme Dusche hilft nicht wirklich. Wie sehr mein Intimbereich lädiert ist, wird erschreckend klar, als selbst das Naturkosmetik-Duschgel höllisch brennt. Am schlimmsten aber ist mein Gesicht, das zwar noch schön, jung und strahlend ist, aber plötzlich vor allem alt, verbittert und frustriert wirkt.

      Hitze und Dampf und der Geruch nach Rost. Meine Sinne sind überaktiv. Ich höre die Hebamme draußen im Kreißsaal fast so gut wie mein eigenes Herz, das vor Liebe zu meinem Sohn Purzelbäume schlägt. Nicht die Art von Liebe, die aufregend ist und einen überwältigt, sondern etwas, das die Zeit überdauert und verbindet, wie Haut, die nach einer Verbrennung wieder neu zusammenwächst. Die Hebamme klingt aus irgendeinem Grund, den ich mir nicht erklären kann, besorgt. Ich habe Angst, dass sie mit mir schimpfen wird. Vielleicht bin ich schon zu lange hier drin oder brauche das ganze heiße Wasser auf. Vielleicht schließt die Tür, die ein wenig klemmt, nicht richtig und sie befürchtet, dass die blutige Pfütze (halb Pipi, halb Überreste) in den Korridor hinausläuft und eine arme Schwangere erschreckt, die gerade erst angekommen ist. Sie fragt, ob sie mir helfen könne. Ich weiß nicht, ob ich Hilfe brauche und wie diese aussehen könnte. Ich fühle mich, als hätte es mich entzweigerissen. Ich wünsche mir, dass niemand jemals Zeuge des Zustands sein muss, in dem ich mich befinde. Aber ich wünsche mir auch, dass mich jemand berührt, um mich daran zu erinnern, dass ich ein Mensch bin.

      Als ich mich schließlich an all das erinnere, was zuvor geschehen ist, ist es kein schönes Gefühl.

      Juli 2007, in die Jahre gekommene Entbindungsstation, große Uniklinik

      Die Wehen haben eingesetzt. Ironischerweise eine Viertelstunde, nachdem mein Mann in die U-Bahn gestiegen ist, um zur Arbeit zu fahren. Mit zunehmender Stärke der Kontraktionen vergesse ich, was Ironie bedeutet, ebenso wie meinen Namen und alles, was ich je gelernt habe. Ich existiere in meinem eigenen Universum.

      Wir kommen vormittags in der Klinik an, und man sagt mir, der Muttermund sei drei bis vier Zentimeter geöffnet und alles sehe „gut“ aus. Wir dürfen entscheiden, ob wir bleiben oder noch einmal nach Hause gehen wollen. Mein Facebook-Status, im Jahr 2007 noch etwas relativ Neues, lautet bereits: „Luce Brett liegt in den Wehen.“ Mich packt die Sorge, dass ich versagt haben könnte, wenn ich jetzt nicht im Krankenhaus bleibe, und es alle wissen werden. Ich wäre ein Weichei und unfähig, die Regeln zu befolgen,